Dec 29, 2008

Nachspiel: 22. April 2006

Bei der grossen Rückspielrunde, die traditionell Ende Jahr stattfindet, hebt sich einer der Funde der letzten zwölf Monate angenehm vom Rest ab: Es ist die Mix-CD von Techno-Grossmeister Guido Schneider, der in gewisser Hinsicht so etwas wie eine Rarität geworden ist. Seine Kreationen geistern noch durch die Klubakustik der Städte und durch unsere Erinnerung, aber auf dem silbernen Schallplattenmarkt haben wir wenig von ihm gesehen bis anhin. Er, der die Werke anderer Künstler auf eine Weise verfeinert hat wie wenige sonst, gibt auf «Focus On» ausschliesslich Lieder aus eigener Mache zum Besten. Diese CD nimmt uns mit auf eine sehr minimalistische Tech-House-Reise, aus deren Tiefe hypnotische Momente auftauchen wie Haare in einer Suppe. Oldies are Goldies; besonders erwähnenswert Brtschitsch&Galluzzis «Regenschauer», von Guido Schneider aufgepeppt, und natürlich Schneiders eigener Klassiker «Super Sander». Im grossen Rest finden sich auch frisch veröffentlichte Werke, und so ist insbesondere der Start ein elegantes Gleiten hinein in Schneiders unverkennbar dichten Minimal-House-Stil, wie er damals, 2006, bei kaum einem anderen Künstler zu finden war.
«Styleways» (Sammy Dee & Guido Schneider, Last.fm)
Guido Schneider - Focus On, Poker Flat.

Dec 27, 2008

Wir nannten es Arbeit XI

Die Vorweihnachtszeit ist als Praktikant die anstrengendste Zeit des Jahres. Ich treffe alle neuen Bekannten auf einen oder zwei letzte Vorweihnachtsdrinks oder ein leckeres Abendessen, es wird erzählt, wie man Weihnachten verbringt, ob man sich darauf freut, man schmiedet Pläne für Silvester. Gleichzeitig gibt es einige letzte Sitzungen im Betrieb zum Thema Sicherheit oder Effizienz, in denen ich immer drohe einzunicken wegen der ein oder zwei Vorweihnachtsabschiede am Vorabend. Auch die Arbeitskollegen wollen natürlich alles wissen über die Feiertage, wie ich sie verbringe, wo, was ich an Silvester mache, wann ich aus den Ferien wiederkomme. Ich habe alle meine Freitage auf das Jahresende gelegt, zwei Tage vor dem 24. freigenommen und frei bis einschliesslich den 11. Januar. Wir sitzen also in unserer Innovationsecke, die zwei Kollegen aus dem Labor nebenan sinnieren über die Vorteile des Citroen C5, der Autokauf ist gerade das grosse Thema, nachdem die Regierung Steuererleichterungen gewährt und die Pendlerpauschale wieder ab dem ersten Streckenkilometer gilt. Wir holen uns noch einen Milchkaffee an der WMF-Maschine, wir setzen uns hin, obwohl ich längst wieder im Labor sein wollte, meine Destillation überwachen. Ich werde gefragt, wie, wann, wielange Weihnachten, wie, wann, wielange Silvester. In der Woche vor Weihnachten gibt es das Weihnachtsfrühstück, das Kolleginnen aus unserer Gruppe organisieren, mit denen wir auch sonst immer frühstücken um halb zehn. Dafür geht fast ein ganzer Vormittag drauf, es ist eine gesellige, eine grosse Runde mit den Akademikern und dem Gruppenleiter. Von den Resten können wir noch fast die ganze Woche frühstücken in unserer kleinen Gruppe. Ausgiebiger als sonst, auch länger. Bei all den Arbeitsausfällen muss ich mich richtig ranhalten, um das Projekt wie geplant rechtzeitig vor den Ferien abzuschliessen. Ich arbeite von 7 bis 6 Uhr abends, mit vielen Unterbrüchen zwar, aber ich arbeite. Ich destilliere mich verrückt an dem gelben Öl, das mal mein Produktmuster sein soll. Ich quetsche jeden Tropfen Reinheit aus der Sauce raus. Ich stöhne vor der Glasapparatur, in der meine kostbare Pampe langsam eine Dunkelfärbung annimmt, aus einem Stich ins Braune wird schnell Schwarz. Und tatsächlich: Am letzten Donnerstag tropft gegen 17:45 das letzte der 100 Gramm aus dem Kondensator, ein Milligramm davon wird kurz analysiert, vermessen, dann noch zwanzig weitere Milligramm eingetütet und zur Abteilung GKA geschickt, wo die Artillerie der betriebseigenen Analytik den Stoff auf Herz und Nieren prüft und schaut, ob er meinen und den Anforderungen des Kundens entspricht. Es ist 6 Uhr abends und draussen schon längst dunkel, als ich die Apparaturen ausschalte, die den Rest meiner Pampe wie im Krankenhaus am Leben erhielten. Der sogenannte «Sumpf» der Destillation ist jetzt eine braune, zähflüssige Crème, wie Karamell, vermutlich ist ein Teil meines Produkts unter den hohen Temperaturen polymerisiert, zusammen mit dem hochsiedenden Lutrol, das als Sumpfverdünner diente, liegt jetzt eigentlich reines Plastik vor. Die Sauerei mache ich morgen sauber. Ich bin der Letzte im Labor – mache das Licht aus, gehe mich umziehen. Morgen dann nur noch das Weihnachtsmenu zum Mittagessen und Ferien.

Dec 21, 2008

Fast Frankfurt XI

Eine beklemmend historische, religiöse Analogie zum GAU von Tschernobyl, die auch von «kid of speed» kultiviert wurde, ist jene des Wermutstrauches aus dem Buch der Offenbarung. Es ist ein biblisches Monument, eine Interpretation, die in ihrer vermeintlichen Treffgenauigkeit von den das Apokalyptische liebenden Russen natürlich sofort annektiert wurde. In der Bibel steht:

«Und der dritte Engel blies seine Posaune; da fiel ein grosser Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Ströme und Quellen. Und der Name des Sterns ist Wermut. Und der dritte Teil des Wassers wurde bitter, und viele Menschen starben von dem Wasser, weil es so bitter geworden war.»
(Offenbarung 8:10, 11)

Ob das aus dem russischen Kyrillisch transkribierte «Tschernobylik» nur die Pflanze Beifuss beschreibt, oder auch die Pflanzenart Wermut mit einschliesst, die zur selben Gattung gehört, darüber lässt sich streiten. Zumindest wächst Wermut in der Gegend um Tschernobyl (Transkription aus dem Ukrainischen eigentlich «Tschornobyl»). Und die Bitternis der Katastrophe lässt sich auf jeden Fall vortrefflich mit dem Geschmack der Pflanze vergleichen. Und natürlich ist die Reaktorexplosion, die promethische Fackel, die als Symbol in der realen Umgebung der Anlage mehrfach auftaucht, ein gutes Sinnbild für den brennenden Stern, der vom Himmel auf die Erde fiel. Die Opfer sind da, in der späteren Ukraine, Weissrussland, dem Baltikum, Westeuropa. Das verseuchte Grundwasser im südlichen Drittel des Landes ist da. Es ist alles da, was in irgendeiner Weise auf die Offenbarung zutrifft, und natürlich sind die Gläubigen da, die Schwarzseher und Schwarzmaler. Es passt zum Poetischen dieser Katastrophe, deren Ausmass so gigantisch ist und so ungekannt, dass es eigentlich nur auf poetische Weise erschlossen werden kann, denn prosaische, faktische Mechanismen funktionieren hier nicht mehr.
Prometheus, wie er keine 200 Meter vom zerstörten Reaktorblock IV entfernt steht. Ursprünglich als Mahnmal für die friedliche Nutzung der Atomenergie aufgestellt, während die Anlage noch im Betrieb war.

Dec 20, 2008

In der Mitte? Ach, in der Mitte ist nichts.

-Sie wollen also etwas über den Woolagaroo-Mythos erfahren.
-Ist er allgemein bekannt?
-Er kommt in den Geschichtenzyklen etlicher australischer Urvölker in verschiedenen Formen vor. Die wesentlichen Elemente sind bei den meisten gleich:

Ein Mann fasst den Vorsatz, einen künstlichen Menschen zu schaffen und ihm Leben zu verleihen. Er baut ihn aus Holz und setzt ihm Steine als Augen ein. Aber seine Versuche, ihm durch Magie Leben einzuhauchen, schlagen fehl. Schliesslich ist er der Sache überdrüssig und geht weg, aber da hört er, dass er verfolgt wird. Es ist natürlich der Woolagaroo, der erzteuflische Teufel, der auf ihn Jagd macht. Entsetzt versteckt er sich, und der Woolagaroo geht schnurstracks weiter, über Steine und durch Dornen und selbst auf dem Grund der Flüsse, bis er verschwindet.

Einige Volkskundler glauben nicht, dass es ein Mythos aus der Traumzeit ist. Ihrer Meinung nach ist er eine Allegorie des ersten Kontakts mit den Europäern und ihrer Technik. Sie sagen, der Mythos will den Eingeborenen klar machen, dass Maschinen irgendwann ihre Schöpfer zerstören.

/Otherland 2, 6 (130)

Fast Frankfurt X

Als ich auf dem Weg in die Ukraine Mitte September im ICE nach Frankfurt hineinrollte, als ich die Hochhäuser und die spiegelnden Fassaden der Bankentürme sah, die mächtigen Hallen des Hauptbahnhofs im neoklassizistischen Stil, auf denen die Figuren von Atlas, Dampf und Elektrizität spielen, da war mein Bild von einer Stadt vervollständigt. An dieses Bild musste ich denken, als ich im Transporter an den Kontrollposten vorbei in die Stadt Tschernobyl fuhr, die so etwas wie die Antithese zu diesem Bild darstellt. Die Häuser marode und grösstenteils ungenutzt, verlottert und von der sie umgebenden Natur nach und nach erobert. Die Strassen breite Flächen von Altasphalt, ohne Markierungen und an den Rändern befallen vom Graswuchs. Wasserleitungen verlaufen oberirdisch wie die Arterien der Zivilisation, sie schlagen Tore über die Strassen, wechseln spielerisch die Richtung, finden zusammen und verschwinden in den Hüllen der Gebäude. Ausserhalb der Stadt ist die Strasse oftmals in die Erde eingesunken, es scheint, als ob sie langsam untergeht und verschluckt wird. Es ist, wie wir erfahren, wegen den Aufschüttungen so, weil in grossen Teilen der Zone die oberen Bodenschichten abgetragen wurden und Dörfer oder Anlagen nach der Einebnung unter einem Meter Erde von anderswo begraben wurden. Vorbei an diesen Hügelgräbern, auf denen verwitterte Radioaktivitätswarnschilder stehen, fahren wir durch die sich bis zum Horizont erstreckende Einöde, es regnet natürlich immer noch, die Scheibenwischer erzeugen kurze Fenster, die auf die vor uns liegende Strecke gehen. Inmitten der Leere stehen Ruinen wie Pilze, die einsam wachsen. Eine gigantische Umspannstation. Eine Wasseraufbereitungsanlage, die komplett mit Zement verschalt wurde, die Schutzschicht wirkt wie ein eckiges Kleidchen. Das riesige Wasserreservoir, das sich der Strasse entlang in breiten Kanälen erstreckt, ist wie eine künstliche Auenlandschaft. Die Kanäle sind ein Aquarium mit amputierter Nahrungskette, die Flusswelse darin stehen auf ihr ganz oben und wachsen bis auf zwei Meter Länge heran. In der Ferne sehen wir die Silhouetten der Kühltürme und der unfertigen Reaktorbauten. Sie sind nur bis zur Hälfte fertiggestellt. An den oberen Rändern ragen die Stahlträger und Baukräne wie Stofffransen in den Himmel. Wir sehen von weitem auch schon den eigentlichen Reaktor, wegen dem wir alle hier sind, wegen dem alle kommen, Wissenschaftler, Mystiker, Künstler, Touristen; allesamt Nihilisten. Und alle hinterlassen etwas, hinterlassen Geschichten, Mythen, Bilder, um die Zone um ihren eigenen, persönlichen, manchmal manischen Surrealismus zu bereichern. Wir erinnern uns an die Internet-Sage von «kid of speed», einer Frau, die im Internet Fotos aus der Zone veröffentlichte und vorgab, mit ihrem Motorrad und dem Passierschein ihres Vaters alleine durch die Zone zu brettern. Es war natürlich gelogen, sie war lediglich als Teil einer Besuchergruppe dort gewesen und hatte die Aufnahmen abseits des Busses gemacht und mit einigen interessanten Fakten von Wikipedia angereichert.



Dec 13, 2008

Nachbilder: The man who wasn't there, 2001

«They got this guy, in Germany. Fritz Something-or-other. Or is it? Maybe it's Werner. Anyway, he's got this theory, you wanna test something, you know, scientifically - how the planets go around the sun, what sunspots are made of, why the water comes out of the tap - well, you gotta look at it. But sometimes you look at it, your looking changes it. You can't know the reality of what happened, or what would've happened if you hadn't stuck in your own goddamn schnozz. So there is no "what happened". Looking at something changes it. They call it the "Uncertainty Principle". Sure, it sounds screwy, but even Einstein says the guy's on to something. [...] I’m saying, sometimes the more you look, the less you really know. It’s a fact – a proofed fact, in a way – it’s the only fact there is. This Heini, he even wrote it out in numbers.»

the happening world

Noch stosse ich mir in der Küche den Kopf an der Abzugshaube. Noch stören im Flur die am Boden liegenden Beine des kaputten Tischs, der nicht weggetragen wird. Noch sind die Nächte unvollendete Ruhezonen am neuen Ort, bilden Traumblasen und lassen diese wegwehen in den stillen Innenhof, wo sie aufsteigen und an der Dachlinie vorbei in den grau-melierten, trüb-wolkigen Industriehimmel eingehen. Noch hat der Output keine Buchse gefunden, noch zuckt der Datenstrom frei, noch ist Ankunft fern, noch kein Ortsschild in Sicht.

Gestern das erste Mal in Pfälzisch geträumt.

Dec 8, 2008

Fast Frankfurt IX

In der Botschaft findet ein Treffen statt zwischen der Politikfabrik-Gruppe und Vertretern von Politik und Medien der Ukraine, sowie zwei Studentinnen der Universität. Danach gibt es Buffett, mein Abendessen, auf das ich an diesem Tag sehr lange gewartet habe. Im Gespräch mit einem Abteilungsleiter eines ukrainischen Fernsehsenders, mit der Leiterin einer ukrainischen NGO, im Blickkontakt mit den Politikfabrik-Leuten, die mir in dieser kurzen Zeit schon so vertraut geworden sind, auf diese Weise bin ich für einige Stunden aus Kiev ausgeschlossen, der Regen und die Fremde sind mir nicht bis in die Botschaft gefolgt. Sie warten draussen, in den Strassen, und werden mich später wieder in Empfang nehmen. Aber als sich einer der Organisatoren der Politikfabrik an den Flügel im Atrium der Botschaft setzt und losklimpert, als das ukrainische Bier zu wirken beginnt, als Gruppenfotos gemacht werden und der Anlass langsam zu seinem Ende kommt, da habe ich die Stadt, das Vorhaben, die Einsamkeit des Reisen vergessen und werde von der Gruppe mit in ihr zentral gelegenes Apartment genommen.
Später, nach einigem Vodka, guten Erzählungen und einem eigenartigen Heimatgefühl stehen wir auf der Strasse, «Team Nord» und ich. Es stellt sich raus, dass wir doch nicht im selben Hostel übernachten, also mache ich mich auf, in die Dunkelheit, doch schon vor dem Hyatt lenke ich ein, lasse ab von der Fremde und steige in die teure Vertrautheit eines Taxis, das mich zum Hostel bringt. Der Regen ist wieder da, er plätschert vor dem Zimmerfenster auf die Wellblechdächer im Innenhof, er bringt Schlaf mit sich und Träume, die ebenso tropfenhaft durch die Nacht fallen, ihren Weg verlassen und in das Labyrinth der Stadt sinken, durch das ich mich kämpfen werde die nächsten Tage. Keine Karte von Kiev sieht aus wie die andere, mit ihnen ist es wie mit den Uhren auf den Strassen und in den Geschäften, die stets eine unterschiedliche Zeit anzeigen. Raum und Zeit, die beiden Realitätsachsen verbiegen sich hier. Die Tage, in denen ich die Stadt kennenlerne, Leute treffe, Telefongespräche führe, Museen besichtige und Metro fahre, sie ziehen sich in die Länge, überschneiden und wiederholen sich. Die Orte ähneln einander, die Gebäude wechseln die Strassenseite, Norden ist mehrmals woanders, nur der Dnjepr ist stets derselbe, breit und ruhig fliesst er am Rande der Stadt, gesäumt von Stränden und Vergnügungsbuden, die alle bereits ihren langen Winterschlaf angetreten haben.
Die letzte Nacht, die ich in Kiev verbringe, ist klar und regenlos. Ich quartiere mich kurzerhand bei der Couchsurferin aus und in einem zentral gelegeneren Hostel wieder ein. Ich gehe erneut in das Apartment der Politikfabrik, wir gehen in einen der vermutlich teuersten und groteskesten Clubs der Stadt, direkt neben der japanischen Botschaft. Hier gibt es sie noch, die Westler im Anzug mit Zigarre, die Vodka aus der Flasche trinken, die ukrainischen Schönheiten mit ihren tartarischen Gesichtszügen, hohen Wangenknochen und filigranen Schulterblättern. Um den Maydan, den Platz der Unabhängigkeit, sieht man mehr Porsche Cayennes als in Stuttgarts Innenstadt. Auf dem Weg zurück finden wir eine Patronenhülse auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Regierungsgebäude.
Der Schlaf in dieser Nacht lässt auf sich warten. Ich liege halbnackt neben dem offenen Fenster. In den zwei Stunden, bis der Bus nach Tschernobyl fährt, gesellt sich irgendwann ein Laken hinzu, eine Bettdecke, ein Kissen.

Dec 4, 2008

Wir nannten es Arbeit X

Die Anlagen des Betriebs liegen mit ihren riesigen Speichertanks, Schornsteinen und Rohrgewirren ruhig da, ihre Aussenhaut glitzert in der Wintersonne. In ihrer Untätigkeit scheinen sie wie grosse, schlafende Metalltiere.
Im Labor herrscht eine angenehme, trägmachende Wärme. In den halbverspiegelten Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes erstreckt sich das zerstückelte Panorama des Himmels, wie er hinter uns liegt. Gelegentlich öffnen und schliessen sich Glastüren im Gebäude, heliographieren dabei die Sonne.
Nach dem Mittagessen ziehe ich mich um und gehe ins Sitzungszimmer im Erdgeschoss, wo ich zu einer Informationsveranstaltung eingeladen bin. Mit mir nur fünf andere Praktikanten. Es gibt Kaffee und Weihnachtsgebäck, die Organisatoren von HR respektive Hochschulrecruiting lassen sich nicht lumpen. Die Vorträge sind eher allgemein gehalten, dümpeln ein wenig an der Oberfläche der Materie, behandeln die Energieeffizienz, wie könnte es anders sein, Ökologie-Thematik, einfache Klassifizierung des Themas, der Forschungsbereiche, Herstellungsgrundlagen. Wir lernen die Unterschiede kennen von Bier in Glasflaschen, Dosen, PET-Flaschen. Wir fragen bis an die Grenze des Erzählbaren, bis dorthin, wo die Geheimhaltungsklauseln greifen und wo Stoffe, Katalysatoren und Verfahren nurmehr mit Nummern und Codes bezeichnet sind, damit nicht auf deren Natur geschlossen werden kann.
Es ist später Nachmittag, als wir zur Werksbesichtigung aufbrechen, es dunkelt und schwere Wolken ziehen auf. Im Styropor-Plant II machen wir einen Rundgang mit einem älteren Ingenieur, das ganze, riesige Gebäude wird allein von vier Leuten kontrolliert, die zwischen den Kontrollräumen umherwandern, gelegentlich nachfüllen, Proben ziehen, aufräumen. So werden 150.000 Tonnen pro Jahr produziert, nebenan in Plant I nochmal soviel. Nach einem Gang durch den Reaktorensaal fahren wir ganz nach oben. Es hat zu regnen begonnen und ein heftiger Wind bläst uns entgegen, als wir aus dem Fahrstuhl direkt auf das offene Dach stolpern. In den Mulden der Abdeckung hat sich Wasser gesammelt und gekauert staksen wir zum Geländer am Rand. Vor uns erstreckt sich die Metallwüste mit ihren vielen Lichtern, zum ersten Mal fühle ich mich richtiggehend als ein Teil von ihr. Unter uns liegen die grossen Styrol-Tanks, von wo aus die neue Polystyrol-Anlage und die beiden Styropor-Plants gespeist werden. Neben uns glüht die Fackel, die das abgesaugte Pentan verbrennt. Styrol wird unter unseren Füssen in 7 Reaktoren polymerisiert, wodurch sich Kügelchen bilden, deren Wachstum irgendwann durch Beimischung von Pentan abgebrochen wird. Die «beads» erhalten dann eine Formulierung wie ein Medikament, sie werden beschichtet und nach Grösse ausgesiebt, bei diesem Prozess entsteht viel Staub, wie wir später sehen, ein Geschoss tiefer, wo die Rüttler stehen, wo die sich zersetzenden Peroxide einen starken, süsslichen Geruch hinterlassen und wo an den Wänden, auf den Maschinen, auf den Neonröhren fingerdick der weisse Staub des Beschichtungs-Stereats liegt wie Schnee. Wasserdicht in ein-Tonnen-Gebinden verpackt finden die «beads» ihren Weg nach Übersee oder England, wo sie geschmolzen und aufgeschäumt werden und als Styropor weiterleben.

Dec 3, 2008

the happening world

Als ich mich im Fitnessstudio registrieren liess, führte mich der leitende Mitarbeiter herum und zeigte mir alles. Er war einer von den Marketingfritzen, die einen ununterbrochenen Redeschwall hervorbringen und schon nach 10 Minuten war ich so erschöpft, dass ich jeden Vertrag sofort unterschrieben hätte. Die Betreiberfirma wurde gerade einem Redesign unterzogen und bekam, neben einem neuen Namen, auch neues Interieur verpasst. Er fragte mich nach meinen Sportgewohnheiten. Ich nannte Rennradfahren. Da wurde er hellhörig. Seine Augen begannen zu leuchten. Ich solle mitkommen, er habe da eine Überraschung für mich, und er führte mich zurück, vorbei an den unzähligen Maschinen, die die Menschen bewegten, zu den Squash-Courts. Einer davon war geschlossen und offensichtlich wurde dort gerade etwas anderes installiert. «Magst du Spinning?» Ich ahne das Schlimmste. Spinning ist in etwa so wie Laufband-Joggen in der Gruppe, ich habe es ein paar Mal gesehen und für unsinnig empfunden, als Freiland-Rennradfahrer will ich Natur sehen beim Sport und die Ruhe der einsamen Passstrassen spüren, und nicht mit Musik und den Aufforderungen des Leiters zugedröhnt werden. «Wir installieren jetzt hier eine neue Form davon, Dark-Spinning, wo du in einem ganz dunklen Raum fährst, mit Schwarzlicht, Diskokugeln, Lichteffekten und natürlich geiler Musik.» Und wie als Begründung, als Legitimation, fügte er stolz hinzu: «Der neue Trend. Kommt aus Amerika.» Ich war ziemlich baff. Das also war es, was sich all diese verbissenen Radler auf den einsamen Passstrassen insgeheim wünschten, die dort mit Kopfhörern, ohne anzuhalten und ohne zu grüssen hochtrabten. Ein dunkler Raum, wo sie ohne Selbstdisziplin, also in der Gruppe, aber eben doch für sich fahren können, nichts sehen müssen, nichts denken müssen, sich nicht bewegen müssen. Es sind diese Radler, die ganz penibel auf ihr Outfit und ihre Ausrüstung achten, die ihr Handtuch (zur Reservation des Standrades) ordentlich gefaltet über den Lenker hängen, die mehr mit sich beschäftigt sind und die ihre Andersartigkeit nicht erkennen können, eben weil ihnen das Kontrastdenken fehlt. Im Grunde, denke ich, sind es hochzufriedene Leute.

Dec 2, 2008

Fast Frankfurt VIII

«Ein einfaches Gedicht, einfache Reime. Jakub Kolas hatte es 1906 geschrieben, einer der weissrussischen Dichter, deren Statuen in den Minsker Stadtparks standen.

Unser armes Vaterland,
lauter Wälder, Sumpf und Sand.
Dort ist eine kleine Lichtung,
dichter Fichtenwald am Rand.


Kolas hatte das Land in seinem vorrevolutionären Halbschlaf gemeint, aber was hiess das schon, es war immer noch so.»
-Büscher

Kiev weckte mich mit dem blassen Schimmer des Dunstes, der durch die hohen Fenster schien, es war halb zwölf, ich war schweissgebadet, drehte mich auf die andere Seite in diesem Bett, das so fremd schien um diese Uhrzeit, mir aber für die letzten zwölf Stunden wie die letzte Ruhestätte vorgekommen war. Auf dem Gang blickten mich russisch aussehende Mädchen verdutzt an. Das Wasser der Dusche war kalt, sehr kalt, ich wollte nicht warten bis wärmeres kam. Mit einem Rucksack wie meinem kommt man nirgends ungesehen vorbei, ich fürchtete die Rezeptionsfrau und dass ich Aufschlag zahlen müsste, weil ich vermutlich die Check-Out-Zeit verschlafen hatte. Ein solches System war hier aber noch nicht etabliert, ich gelang ungeschoren auf die Strasse, wandte mich nach rechts und stand auf der Kreshatyk. Links von mir lehnte sich ein marmorbrauner Lenin gegen den Wind des Verkehrs, gegen eine gigantische Markthalle – und gegen den Regen. Der Regen hatte nicht aufgehört, er war stärker geworden, und er sollte die nächsten Tage andauern. Ich hatte beschlossen, noch eine Nacht in der Innenstadt zu bleiben und erst dann die Schlafgelegenheit bei Andrii in Anspruch zu nehmen, einem Couchsurfer, der einige Metrohaltestellen entfernt wohnte. Das Hostel, das ich aufsuchte, war eines der drei oder vier, die es in ganz Kiev gab. In einer alten sowjetischen Wohnung eingerichtet ähnelte die «Jugendherberge» einer brackigen WG, deren Zimmer zu Massenschlägen umfunktioniert waren. Es regnete. Der Regen tropfte von den Wellblechdächern in die grossen Pfützen des Innenhofs, auf nassen Teer, Schlaglöcher, Autos. Ich spannte etwas Schnur durch das Zimmer, in dem ich ein Bett ergattert hatte und das jetzt verlassen war, hängte meine nassen Kleider auf und fuhr zurück zur Kreshatyk. Der breite Boulevard, im sowjetischen Volksmund vermutlich «Prospekt» genannt, war ein Architekturmuseum im stalinistischen Stil. Grosse, erhabene Gebäude erstreckten sich zu beiden Seiten, allesamt Neubauten. Ich folgte dem Strassenverlauf in der Richtung, wie sie auch von den Panzern der roten Armee eingeschlagen worden war, damals, nach dem Ende des grossen Krieges. Die Deutschen hatten die Hauptstrasse und die angrenzenden Gebäude komplett vermint hinterlassen und wenig war von den alten Bauten übriggeblieben. Die Fremde war da, um mich herum, mit tausenden Gesichtern, sie schwatzte auf mich ein in hundert Sprachen, wollte mich hier und dorthin führen, aber gab mir nichts zu essen. Sie trieb mich an den russischen Kantinen vorbei, in denen in einem romantisch-ländlichen Ambiente russische Schnellküche serviert wurde. Ich ass nichts, kaufte nur in einem Supermarkt eine Flasche Wasser. Dann ging ich in eine der Kaufhallen, die unterirdisch um die Metrostationen herum gewachsen waren. Hier kaufte ich ein Paar spitz zulaufende Kunstlederschuhe mit eingearbeitetem Wildlederimitat, eine Art, wie es in der Ukraine Mode gewesen war, oder noch immer ist. Mit diesen dünn besohlten Schühchen stiefelte ich in Richtung des Regierungsviertels in der Nähe der Universität, wo ich mir an einem Stand zwei Bananen kaufte, die Kapuze abstreifte und zur deutschen Botschaft ging.

Dec 1, 2008

Wir nannten es Arbeit IX

Zwischen den Pausen arbeiteten wir. In Deutschland macht man traditionell um halb zehn Uhr Frückstückspause, ich ass natürlich schon vorher eine kleine Mahlzeit, zuhause. Gegen halb eins geht es dann zum Mittagessen in die benachbarte Kantine, den «Roten Ochsen», wo eine Essensrunde mit den Arbeitskollegen oder mit anderen Praktikanten schonmal eine Stunde dauert – ein Zeitfenster, das ungekannt war zu Uni-Zeiten, wo innert 45 Minuten turbo gegessen und turbo Kaffee getrunken wurde. Die Kaffeepause nach dem Mittagessen lasse ich ohnehin aus, da dieser Koffeinschub nichts hilft, stattdessen versuche ich, vor der richtigen Kaffeepause um drei noch etwas zustande zu bringen. Seit etwa einem Monat nennt unsere Abteilung eine «Innovationsecke» ihr Eigen, eine modern eingerichtete Örtlichkeit im Gebäude nebenan, mit grossformatigen Wissenschaftsbildern auf Panels und Flachbildschirmen, runden Glastischen, Plastikstühlen mit fliessenden Formen sowie einer 1A WMF Kaffeemaschine. Für den Kaffee (oder Latte Macchiato oder Chocolato) bezahlt man nichts, man tut schliesslich seinen Dienst an der Forschung, wenn man sich wie vorgeschrieben mit Kollegen oder Fremden aus anderen Abteilungsbereichen trifft und gemeinsam neue Ideen ausbrütet. Wir gingen natürlich auch so hin, ohne Fremde, zwischen unseren Pausen, und diskutierten über unsere Vorgesetzten, das Abteilungsklima, oder die Weltwirtschaftskrise. Die Weltwirtschaftskrise – die Etymologie dieses mächtigen Wortes ist zumindest uns völlig klar: Während sich die Zeitungen und die Infokanäle des Intranets noch mit «Schieflagen im Finanzsystem» oder «Rezessionsängsten» zufrieden gaben, bliesen die Sparer unserer Firma gleich ganz kräftig ins Horn. Wie es in einer Email hiess, würden auf Grund der «Weltwirtschaftskrise» Betriebsanlässe (auch bereits geplante) gestrichen. Ausserdem gäbe es keine Kekse mehr bei Sitzungen. Dass die Not bei uns schon so gross ist, dass selbst die Kekse in Zukunft wegfallen sollten, zog uns wirklich die Schuhe aus. Bei meinen Fahrten durchs Werksgelände hatte ich schon immer geglaubt, weniger qualmende Fabriken zu sehen und weniger Tankzüge, die zwischen den Fabriken und dem Umschlaghafen pendeln. Nun war es also amtlich. Der Vorstand fliegt nur noch Business-Class, nicht mehr in der First. Alle Investitionsplanungen müssen noch einmal einer Kostenerträglichkeitsanalyse unterzogen werden. Es gibt keine teuren Neugeräte mehr. Es gibt keine Kekse mehr.