Jun 30, 2009

1 Gedicht/Tag

kommt per Lyrikmail #2009

UTOPIE
Ich stelle unser Bett
In den Mondschein
Auf eine Brücke aus Licht
Die über den Strom führt
Der keinen Ursprung hat und kein Ziel
Auf eine Brücke
Aus Licht
Ohne Hin- und Herweg

Karl-Johannes Vogt

tracking with close-ups

Eines Nachts fahre ich wieder fort, bringe kurz einem Freund einen Schlüssel vorbei, ein letzter Moment Licht und die Verlockung der offenen Wohnungstür, dann die einsame Dunkelheit der Linienstrasse, die frisch aufgepumpten, neuen Schläuche meines Rads machen jede Unebenheit der Fahrbahn erlebbar. Ich fahre vorbei an den Kneipen, die etwas zu gut eingerichtet sind, um originell zu sein, deren Gast ich nicht sein möchte, nicht heute und nicht an einem anderen Tag. Ich fahre auch vorbei an den Spielstätten der Nacht, wo ich gerne einkehre, deren Bier ich gerne trinke, und zünde mir die nächste Zigarette an, just als ich links das Ballhaus vorbeiwischen sehe.

Ich denke, ich mag die Fahrradfahrer doch eigentlich, diese schweigenden Anderen, auf ihren Wegen, und schmunzle über meine nächtlichen Touren. Die Linden sind hellerleuchtet, wie ich es immer in Erinnerung habe, die Friedrichstrasse erlebt gerade die letzte Ebbe des Tages. Ich fahre leicht links, in ruhigen Strassen, nicke den Portiers zu, die sich zu Bentleys hinabbeugen. Ich fahre und fahre und durchpflüge die warme Nacht in einer neuen Richtung.

Jun 27, 2009

the happening world

Anstatt zum Amusement ins Olympiastadion zu fahren, könnte man einfach in diese Tropical-Islands-Vergnügungshalle im alten Cargolifter-Werk tuckern, oder zum Beispiel zur Fusion. So lange ungefähr dauert nämlich die Reise in den äusseren Westen der Stadt, dorthin, wo Stelen und arische Sportlermonumente Zeugnis ablegen von der architektonischen Geschichte Berlins. Für die Fusion war das Wetter etwas bescheiden, und so fuhr ich natürlich trotz der Fahrzeit zum Sommerfest, denn ich wollte mir die Sause nicht entgehen lassen. Es war dann auch ein prächtiger Anblick, den das Catering- und Event-Team und Bayer-Schering angerichtet hatte. Wir wurden über das Marathon-Tor ins Stadion hineingeleitet, so dass sich das hellerleuchtete Rund vor uns ausbreitete wie eine offene Auster. Oben auf der Treppe nahm ich erstmal einen Sekt, und am Fuss von ihr gleich noch einen. Für das leibliche Wohl sorgten unzählige Grillstände, Salat-, Hauptgang- und Dessertbuffets sowie Getränkebons, die man uns am Eingang verschwörerisch zusteckte. Auf den Tanzflächen des VIP-Forums wurde dann gegen zwölf auch schon mehr oder weniger enthemmt getanzt. Nach zwei, drei Weissweinen, einigen Bieren, einem Cosmo an der Merengue-Bar, guten Gesprächen mit meinen Arbeitskollegen und einem Lichtspektakel in der Arena verliess ich dann aber die Sportstätte, um mich dem freitäglichen Treiben in Prenzlauer Berg zu widmen. Natürlich wäre es toll gewesen, eine Frau aus der mittleren Führungsebene vom Marketing kennenzulernen.


Am nächsten Morgen ist es immer noch dieses unentschlossene Wetter, ich setze mich in mein Café und esse – noch etwas zittrig von der Nacht und dem Hunger nach Frühstück, die Beine müde vom Laufen, Treppensteigen, Trinken – das beste Müsli des ganzen Viertels. Michael Jackson ist auf dem Titelbild der Zeitung, er wird auch im Feuilleton hervorragend diskutiert. Ich skippe bis «Give in to me» und erinnere mich an die Booklets, die mit ihren enggedruckten Liedtexten wie kleine Fibeln der Musik und des ewigen Suchens nach einem perfekten künstlerischen Ausdrucks wirkten.

Fast Berlin XIII

Mit einem kräftigen «Juut» wird Bilanz gezogen über die Anstrengungen des heutigen Tages. Jetzt, mittendrin zwischen Umziehen, Einkaufen, Organisieren und Ausgehen kommt einem solch ein erlösendes Eingeständnis des Erfolgs nichts leicht über die Lippen, nichtsdestotrotz: Berechtigt ist es. Glücklicherweise wächst die Anzahl der Taschen mit der Zunahme der Habseligkeiten. Glücklicherweise werden die Wege immer kürzer. Glücklicherweise kommen helfende Hände und zusätzliche Einrichtungsgegenstände im rechten Moment. Glücklicherweise schrumpft für ein paar Tage der Zukunftshorizont auf einige Stunden. Glücklicherweise geschieht all dies und noch viel mehr hier, in Berlin.

Jun 26, 2009

the happening world

Heute Abend lädt niemand geringers als mein Arbeitgeber zum Sommerfest in die VIP-Hallen im Olympiastadion. Eintritt leider nur mit Firmenausweis. Sorry Berliner, ihr müsst draussen bleiben - dort ist hoffentlich auch etwas los. Für morgen bürge ich:

Samstag, 27.6.: David Levine / Feinkost, Bernauer Strasse. via mail.

Sonntag wird wiedermal umgezogen. Wohnungsbegiessung ist in zwei Wochen. Dann, so hoffen wir, nehmen die Dinge einen geregelteren Lauf, dann kommen Möbel, ein Zwischenmieter für August/September (bei Interesse comment), eine Eingebung und natürlich jede Menge am Schreibtisch geschriebener Zeilen. Momentan findet das ja auf den Knien statt, oder im Café.

Das branding in Mitte geht weiter. In der Max-Beer-Strasse reibt sich der WeSC-Shop seit Mitte Mai ganz kollegial am ebenfalls schon leicht ergrauten Streetstyle-Label FREITAG aus Zürich. Ich konnte meinen Augen damals ja kaum trauen, als die anfingen, diese Einkaufstüten zu vermarkten. Wenn man aber mal gesehen hat, wie in Zürich mittlerweile fast jeder Fussgänger und Fahrradfahrer mit so einem Freitag-Messenger rumkurvt, war das vielleicht die einzige Idee, die wirklich Erfolg versprach.

Michael Jackson is dead

...und das offenbar schon seit Donnerstagnachmittag (Ortszeit LA). Die Neuigkeit kam auch für mich wie ein Schock, obwohl ich seine letzten Aktionen eher unscharf beobachtet habe. Es standen letzte Konzerte in London an.

In meinen Augen hat Jackson die Musik beeinflusst wie wenige andere. Seine Kompositionen und Texte waren seiner Zeit voraus. Das Album «Dangerous» war die erste CD, die ich mir mit ungefähr 8 Jahren gekauft habe. Sie hat alle Umzüge, Geschmackswandlungen und CD-Player überlebt und gehört musikalisch bei mir immer noch zu den Favoriten.

Jun 25, 2009

the happening world

Gerade einen neuen Akku für den Laptop gekauft, stolze 139 Euro. Willkommen in der No-Go-Area der Garantiebestimmungen - denn da die Batterien «Verbrauchsmaterial» sind, zahlt der Hersteller natürlich nicht deren Ersatz. Das Gerät ist aber - natürlich - unentberlich, und mit einem Kraftstoffpaket, das ständig den Geist aufgibt, nicht zu gebrauchen. Ich werde von nun an das Kontoauszugabholen jemand anders überlassen, ich bin schliesslich nur für die schwarzen Zahlen zuständig. Und für Urlaub - allerdings keimt in mir die Befürchtung, dass das Kapital dafür ausgegeben ist, bevor ich einen Fuss auf serbischen Boden gesetzt habe.

Des weiteren: Auch mein Fahrrad mit Seltenheitswert rollt wieder, frisch aufgereift hat es seinen Besitzer um das Äquivalent des Kaufpreises geschröpft. Das Rad, seine Bewunderer in den Strassencafés und an den Haltestellen und ich hoffen, dass die 26-Zoll-Reifen soviel aushalten wie die originalen.

Möchte nochmal auf das Zentrum für Politische Schönheit verweisen. Es tut sich viel bei uns, die nächste Kunstaktion steht an und in Bälde wird darüber berichtet. Tretet unserem Info-Netzwerk bei.

Jun 24, 2009

1 Gedicht/Tag

Unser Schloss

Längs dem Strom, in blauen Hecken
Spielen, und im Teich, verstecken
Sonnenlichter mit den matten, rötlichen
Blutbuchenschatten.

In den stummen Säulengängen
Dunkle Abendfalter hängen
Und ein Atmen, hin und wieder
Ungebor'ner Königslieder.

Über breiten Marmorstiegen
Hundert ferne Jahre liegen.
Flüsternde Tapeten tragen
Hundert graue Zukunftssagen.

Über meine Seele schreiten
Kommende Vergangenheiten
Ritterspiele, Königsworte
Laute Feste, stumme Morde.

Bald, und unser Park wird trauern
Brütend über Moos und Mauern
Und ein Wanderer wird mit Grauen
In die schwarzen Fenster schauen.

Und Chronisten werden sagen
Wunder, die sich zugetragen
In den sagenhaften Jahren
Da wir noch am Leben waren.

Hermann Hesse

Jun 23, 2009

1 Gedicht/Tag

Ferien auf dem Lande

(Ich kam mit einem Auto an
und Koffern, sechs bis sieben.
Der Motor ging total entzwei,
so mußt zuletzt ich schieben.)

Ich wohn in einem Bauernhaus,
Die Milch ist frisch und sahnig.
Die Störchin auf dem Scheunendach,
sie schäkert mit dem Kranich.
Die Kuh macht "muh" - der Ochse auch,
sind schwer zu unterscheiden,
erst wenn man melken will, merkt man
den Unterschied der beiden.
Die Bauersfrau ist jung und schön,
Ich bin bei ihr der Kranich.
Ein Ochse ist ihr Herr Gemahl. -

(Zurück fahr mit der Bahn ich !)

Heinz Erhardt

Wir nannten es Arbeit XX

Während auf der Arbeitsfläche hinter mir die Zentrifuge schnurrt, lese ich das Reiseblatt von letzter Woche und betreibe zwischen den Abschnitten etwas Kopfrechnen. Soeben ist der assay fertig geworden, der nun vermessen werden muss. Eine brauchbare Grössenanalyse der in der Lösung enthaltenen Partikel dauert 10 Sekunden, und 10 Messungen hintereinander sorgen dafür, dass etwaige Streuungen ausgemittelt werden. Mein heutiger assay ist stolze 50 Proben stark, danach oder währenddessen wird noch der Zentrifugen-Inhalt aufgearbeitet. Die Proben im Analysegerät werden von Hand gewechselt, das ist der Grund, warum ich zeitungslesend danebensitze. Es ist einfach nicht sinnvoll, alle 100 Sekunden aus meinem Labor nebenan herüberzustürzen. Noch 20 Proben; ich werde noch 33 Minuten hier sitzen und kleine Plastikröhrchen hin- und herstellen, denke ich zwischen dem Bericht über einen «Glücksurlaub» an der türkischen Ägäis und einer Spurensuche in Maigrets Paris. Es piept, ich wechsle die Proben und schaue aus dem Fenster. Das Berliner Panorama präsentiert sich dunstig, aber freundlich. Die Nachmittage hier sind wechselhafte Gesellen, ich werde mich noch an den zornigen Wind und die tiefe Sonne gewöhnen müssen. Es folgt eine Beschreibung des Seine-Ufers in Simenons Romanen, von Hafenarbeitern, Schlachtern und Damen, die auf den Bänken in den Parks auf Kundschaft warten. Das Intervalllesen ist eine klasse Beschäftigung, gerade, wenn sich zuhause aus Urlaubsgründen ungelesene Feuilletons und Reiseblätter stapeln. Entzückt blättere ich um.

Jun 21, 2009

Artcrimes

Subversive Kunstverbrechen haben mich ja immer schon begeistert. Der Prozess der Kunstentstehung wird mystifiziert und geschieht meist auf illegale Weise. Man landet in einem sozialen Niemandsland, wo «Kunst schon fast Verbrechen und Verbrechen fast schon Kunst» ist (Neuromancer, William Gibson).

a) Untergunther// Nicht nur wegen dem tollen Namen. Reparierten die historische Uhr des Pantheons in Paris, fälschten dafür eine Menge Schlüssel und übergaben die funktionstüchtige Uhr schliesslich der staatlichen Obhut.

b) Ruppe Koselleck hat allerlei Privatbilder und anderes in die perfekten, von aller Menschlichkeit befreiten IKEA-Einrichtungshäuser geschleppt. Ganz abgesehen davon betreut er Kunstprojekte und Verbrechen am guten Geschmack (siehe «Terrorismussouvenir»)

c) wie b), nur in französisch: encastrable etabliert Kunst am Baumarkt in den schnödesten Hallen unseres Planeten.

via subversivblog rebel:art

Konferenz der Tiere I

Erstmal die Rückschau, denn vielleicht lässt sich in der Retroperspektive der Kulturschock am besten verstehen. Samstagnacht gegen ein Uhr, S9 von Schönefeld. Den Fehler gemacht, von Warschauer Strasse mit M10 bis vor die Haustür fahren zu wollen. Das ist ja so ziemlich die schlimmste Route, die einem die Alkohol- und Identitätsprobleme einer partyfreudigen Hauptstadt bis auf Riechnähe entgegenbringt. Hier, eingequetscht zwischen stinkenden, gröhlenden, an die Scheiben der Tram hämmernden und an Stationshäuschen pinkelnden, lebendigen Alkoholleichen, bekamen die letzten sieben Tage ihren finalen Kontrast. Es kann ja nicht alles nur in Regenbogenfarben gemalt werden. Dennoch sind die Vorstellungen, Überlegungen und Bemühungen zur Paradigmenüberbrückung zu essentiell und zu langlebig, als dass sie so einfach aufgegeben würden.

Von nun an gibt es also News aus der Schnittstelle von Wissenschaft und Spiritualität. Was dieser Blog bis zu einem gewissen Grad ja auch ist. Worum geht es dabei? To make it short: Wissenschaftler, die eine spirituelle Form gefunden haben, werden nachhaltigere, sinvollere und humanfreundlichere Technologie entwickeln. Auf diese Weise ermöglichen sie es den Menschen, die sie benutzen, sich diese Eigenschaften anzueignen. Im Grunde geht es darum, die Welt zu retten, und dafür sowohl eine Technik als auch eine Philosophie zu entwickeln. Seltsamerweise waren die rund 120 Teilnehmer der "International Conference on Science&Spirituality in Cortona, IT" zurückhaltend genug, das kaum zu erwähnen.

1 Gedicht/Tag

Die Ameisen

In Hamburg lebten zwei Ameisen,
Die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der Chaussee,
Da taten ihnen die Beine weh,
Und da verzichteten sie weise
Dann auf den letzten Teil der Reise.

-Ringelnatz

Jun 12, 2009

Fast Berlin XII

Wetter in Berlin: Wie im April. Wetter in Florenz: 32 °C, Sonne. Allein die Reise wird vielleicht für den einen oder anderen Tropfen Schweiss sorgen. Vielleicht war es im Nachhinein doch keine so gute Idee, nach Mailand zu fliegen und dann die halbe Apenninen-Halbinsel hinunter nach Carmucia zu rasen. Vielleicht aber wird just diese langsame Streckenführung dafür sorgen, dass alle Geschwindigkeitsgedanken versiegen. So, wie jede Italienreise nunmal beginnen sollte. Und auch wenn ich den Beginn der Konferenz im wunderbaren Hotel Oasi verpasse; für das Abendessen ist es dort nie zu spät.

the happening world

Der Gehweg der Danziger gleicht einem Brachland. Auf der Achse Bernauer-Eberswalder-Danziger finden die derzeitigen Sanierungspläne im Prenzlauer Berg ihre Anwendung. Ganz abgesehen von den Arbeiten auf der U2 und der Torstrasse. Wie man hört, wird bald auch die Kastanienallee dransein, dann ist die Zeit der breiten Bürgersteige und des relativ ruhigen Verkehrs möglicherweise erstmal vorüber.

Der Wind bläst aprilgleich. Dieser Stadtsturm ist etwas, was ich mit Deutschlands Norden verbinde, Hamburg war mir stets zu zugig, in Berlin geht es eigentlich, ich frage mich bloss, wie die Leute bei dem Wind ihre Frisuren so gut behalten können. Ich war ja gerade heute erst beim Friseur, und habe neben höheren Preisen auch feststellen können, dass mich die dauerhafte Beschallung mit elektronischer Musik, die ich einst kreativ und anregend fand, nun etwas ermüdet. Ich frage mich, wie die Friseusen und Friseure das aushalten und sich diesen Sound allen Ernstes des Nachts auch noch in der Arena oder dem Watergate anhören können.

Die Abende werden derweil voller und voller und ich kann das Funkstille-Syndrom nun auch bei mir beobachten, ich bin je länger je mehr eingebundener in meinen Aktivitäten, so dass die Benachrichtigung von Freunden und Familie nicht mehr im üblichen Rhythmus stattfindet. Um diese Zeitlosigkeit, diesen Grad der Beschäftigung zu erreichen, dazu bin ich recht eigentlich aber aufgebrochen. Habe mich nicht vollkommen wohnlich eingerichtet. Um nicht Zuhause im Schönen zu versacken. Mit dem dritten Umzug Ende Juni wird das gemütliche Einrichten aber ganz nach meinem Geschmack endlich stattfinden und ich frage mich, ob dann die Unternehmungslust geordnete, ruhigere Züge annimmt.

Fürs erste ist aber Urlaub angesagt, kein Blogalarm und Handyklingeln. Ich werde ab Samstag für eine Woche in Italien weilen und auf einer Konferenz erneut die Vereinbarkeit von Spiritualität und Wissenschaft ausloten. Sieben reiche Tage mit viel Essen und Gesprächen und Sonne. Ich habe die Vermutung, dass die Reiseberichte und Alltagsbeobachtungen nach meiner Rückkehr wieder jene Atemlosigkeit und Dynamik annehmen werden, die sie schon im letzten September hatten.

Der Wind in den Bäumen klingt manchmal wie Regen.

Jun 11, 2009

Fast Berlin XI

Wie langsam man zu Fuss ist, merkt man ja vor allem, wenn das Fahrrad mal wieder im Hof bleiben muss. Gestern auf dem Weg in den Treptower Park erneut einen platten Hinterreifen geholt, und das, nachdem der Schlauch erst vor zwei, drei Wochen gewechselt worden war. Der Mechaniker hatte mich ja noch gewarnt - der Mantel ist total rissig. «Der fährt aber schon seit mehr als fünf Jahren», wusste ich zu erwidern. Tja, nun hat er langsam das Ende seiner Tage erreicht, und ich darf zusehen, wo ich mit meinem Fahrrad mit Seltenheitswert bleibe. Bei der Arbeit meinten die Kolleginnen altklug, dass so ein Reifenwechsel ja wohl kein Ding sei, und wenn der Reifen eben knapp sei, könne ich ja mal eine neue Felge besorgen. Es sind nun aber Gelegenheitsfahrerinnen, ich verzieh ihnen ihre Unwissenheit. Das Rad hat Wulstreifen, die man nicht in jedem Geschäft bekommt. Genauer gesagt in gar keinem hier im Stadtteil. Die müssen per Importeur bestellt werden, kosten stolze 40 Euro das Stück und natürlich die Versandkosten. Dann noch einen Schlauch dazu und das Geld für die Montage. Aber wieso erzähle ich das eigentlich alles? Heute beim Mittagessen habe ich noch rumgetönt, dass diese Ersatzteilkosten ja wohl Peanuts seien und ich zusammengerechnet mit dem Kaufpreis des Rades (100 Euro) immer noch weit unter dem Betrag für ein moderneres Ersatzrad läge. Nunja, so geht es eben mit Liebhaberstücken.

Die Mechaniker in der Werkstatt um die Ecke sind auf jeden Fall immer zu Scherzen aufgelegt und reiben sich verdächtig die Hände, wenn ich eintrete. Wenigstens sie nehmen mir diese Leidenschaft nicht übel.

Repariert auch Schweizer Militärräder, vorausgesetzt man gibt ihnen die Ersatzteil: Rad der Stadt, Prenzlauer Allee.

1 Gedicht/Tag

Und: In Englisch!

«Listen, you fuckers, you screwheads. Here is a man who would not take it anymore. A man who stood up against the scum, the cunts, the dogs, the filth, the shit. Here is a man who stood up.»

Robert DeNiro as Travis, Taxi Driver (1976)

Jun 10, 2009

1 Gedicht/Tag mit Anmerkungen

Der Hirsch raunte der Hinde in das Ohr: "Willst du noch, Hinde?"


(Hinde=Hirschkuh)

Eine aus dem Althochdeutschen übersetzte, anonyme Randnotiz in handschriftlichen christlichen Texten. Das Gedicht kommt via Lyrikmail Nr. 1996. Link.

Jun 9, 2009

Fast Berlin X

Erster Tag des Nichtrauchens. Und seit langem mal wieder ein Abend, der konsequent fürs Schreiben verwendet werden soll. Ausgerechnet heute aber spielt das Stammcafé Pop, wo sonst gute, leichte Abendmusik durch den Saal hallte, durch die gepolsterten Stühle und Sessel. Draussen, vor dem Fenster, liegen die Strassen in mattem Nacht-Schwarz, sitzen Leute in mattem Natrium-Orange, fährt und unterhält sich alles lautlos, weil innen die Musik dröhnt.

Die Fahrradfahrten durch die Stadt bekommen langsam einen prägenden Charakter. Es gibt die morgendliche Zur-Arbeit-Fahrt, in der linken Hand der Kaffee-to-go, in der Brusttasche der Werksausweis. Es gibt die Kurzfahrten zur Redaktion der FAZ in der Mittelstrasse, durch die ruhige Linienstrasse und für einige, lange Häuserblocks entlang der Gesetztheit von Mitte. Es gibt die Tourneen zum betahaus und immer erst spät wieder zurück, diese eine, lange Gerade, vorbei am Alexa und der Berliner Zeitung. Es gibt die nächtlichen Kreuzfahrten an die Friedrich- und andere Strassen und morgens verstrubbelt durch die Sonne zur Arbeit, es gibt die abendlichen (ja ich gebe es zu) Fitness-Fahrten zu den Arkaden und die sonntäglichen Trips zum Kino Babylon. Dort residiert das Berlin Projekt, eine neue Kirche für Berlins umliegende Stadtteile. Wer sich mit Kirche, Gottesdienst, evangelischer Praxis oder jungem und erfrischendem Glauben nicht auskennt, kann das jeden Sonntag von elf bis halb ein Uhr in einer unkomplizierten und für Neue offenen Atmosphäre nachholen.

Freitag ist Berlin interessant. Es gibt eine Ausstellung in Friedrichshain mit Interessierten, die ihre Lieblingsprojekte in kurzen Vorträgen erläutern und Exponaten darlegen. Link.

Schon etwas länger her ist die Finissage im Stadtbad Wedding. Es war eine an Englisch äusserst reiche Gesellschaft, was vielleicht ungewöhnich, in Galeristenkreisen aber üblich sein mag. Die Kabel-, Licht- und Toninstallationen in den bunkerartigen Korridoren wirkten verstörend, die Konzerte im Tanzraum waren angenehm skurril, die Bar war gewohnt langsam.



Jun 6, 2009

1 Gedicht/Tag

Ich bin allein.
Unendlicher Schmerz zerfrisst wie Feuer meine Brust.
Hört, ich muss es sagen:
O Herr,
Wird der Tag kommen, an dem mein Herz Ruhe findet?

Abai Kunanbaev

tracking with close-ups

Der Donnerstagabend im Betahaus begann gewohnt improvisations-lastig. Oder eigentlich wohl geplant, nur mit der den beta-Machern ureigenen Gelassenheit. Während auf dem Parkplatz nebst Grillbude schon der pinkfarbene dome stand und im Arbeitsraum auf der unteren Etage Design ausgestellt wurde, war die Einrichtung im Hinterhof noch unvollständig, als ich um kurz nach sechs ankam. An den Schreibtischen im dritten Stock wurde vereinzelt noch gearbeitet, ein Bild, das für das Agglomerat aus Kunst und Arbeit in der Prinzessinnenstrasse so typisch ist. Nach den Aufbauarbeiten stand dann auch die Aussenbar, die auf der Achse zwischen Café und Ausstellung lag, sowie die rote Engtanzhöhle. Heizpilze brachten die Kühle zum verschwinden. Das Konzept war gewohnt wohlüberlegt, und gegen zehn, elf Uhr tummelten sich immer mehr Menschen im café und auf dem Hinterhof und liessen sich von beiden Seiten beschallen.

Fast berlin IX



Besucher-Plattform Berlin-Nordwest. Oder einfach: Aussicht von meinem Labor aus. Im Vordergrund baut der BND. Nicht auf dem Bild: Siegessäule (weiter rechts).

Jun 5, 2009

the happening world

No one would have believed in the last years of the nieteenth century that this world was being watched keenly and closely by intelligences greater than man’s and yet as mortal as his own; that as men busied themselves about their various concerns they were scrutinised and studied [...]. With infinite complacency, men went to and fro over this globe about their little affairs, serene in their assurance of their empire over matter. [...] No one gave a thought to the older worlds of space as sources of human danger, or thought of them only to dismiss the idea of life upon them as impossible or improbable. [...] Yet across the gulf of space, minds that are to our minds as ours are to those of the beasts that perish, intellects vast and cool and and unsympathetic, regarded this world with envious eyes, and slowly and surely drew their plans against us.

Bei den Ideen des Zentrums für Politische Schönheit muss ich ja immer an H.G. Wells Geschichten «The Time Machine» und «War Of The Worlds» denken. In ihnen zeichnete der Autor während des zu Ende gehenden neunzehnten Jahrhunderts eine Zukunft, die so gar nicht science war: Dass die Menschheit verdummen würde, in naher oder auch ferner Zukunft, dass sich das Beschäftigungsfeld unserer Nachfahren nicht in Richtung Weltraumerforschung oder Weltformel entwickeln sollte, sondern in Richtung – Nabelschau. In seinem Buch «The Time Machine» sind die beiden Völker der Eloi und Morlocks sosehr mit sich selbst beschäftigt, dass für Forschung ohnehin kaum Zeit bliebe.

Diese düstere Dystopie entwerfen auch die Köpfe des Zentrums für Politische Schönheit. Allerdings mischen sie dem Gedanken noch eine anthropologische Wirkrichtung bei. Sie wollen die dem Menschen einst eigene Einzigartigkeit, ohne seine Einfallslosigkeit oder Selbstbezogenheit für die Nachwelt konservieren, sozusagen. Ein Filmstill fürs Jahr 4000 mit den dümmsten Sprüchen von heute. Denn, und das scheint ihre Botschaft zu sein, in ihrer ständigen Selbstsuche und Individualisierung tragen heutige Bürger nichts Konstruktives mehr zur gesellschaftlichen Entwicklung bei. Anstatt uns neue Denkwelten zu erschliessen und alte neu zu entdecken, folgen viele blindlings den von Werbung, Medien und «Zeitgeist» angebotenen Extrawelten des scheinbar hochentwickelten Lebens. In gewissen Kreisen ist es einfach chic geworden, eine phlegmatische Grundhaltung zu kultivieren, sich grundsätzlich zu beschweren und ganz allgemein seine Ideen, Träume und seine Moral second-hand aus Magazinen oder von Vorbildern zu beziehen. Wir vertrauen auf unsere Herrschaft über die gängigsten Faktoren und überlassen den Rest denjenigen, die sich damit ohnehin beruflich auseinandersetzen müssen.

Mit dieser Gewaltenteilung fahren wir eigentlich ganz gut – wir müssen uns weniger Gedanken machen und die anderen haben genug zu arbeiten. Vielleicht ist es diese Abgabe von Mündigkeit, durch die sich viele gedrängt sehen, mehr Zeit in die Selbstverwirklichung im Beruf zu investieren. Das Resultat ist simpel: Freizeits-Einbussen für alle.

Und selbst wenn sich die direkten Folgen nicht so einfach beziffern lassen, die dieser Rückzug aus der gesellschaftlichen Mitgestaltungssphäre nach sich zieht: Die Auswirkungen sind ja offensichtlich genug. Viele sind unzufrieden – und niemand tut etwas dagegen. Wieviel befriedigender wäre der Versuch, ganz eigennützig allein dem Drang nach Schönheit zu folgen? Na klar ist das eine Utopie. Aber eine Utopie ist auch immer nur so unerreichbar, wie die allgemeine Einschätzung vorgibt. Sie ist nicht käuflich – und deswegen nicht zu haben?!

1 Gedicht/Tag

Forgetfulness (1990)

The name of the author is the first to go
followed obediently by the title, the plot,
the heartbreaking conclusion, the entire novel
which suddenly becomes one you have never read,
never even heard of,

as if, one by one, the memories you used to harbor
decided to retire to the southern hemisphere of the brain,
to a little fishing village where there are no phones.

Long ago you kissed the names of the nine Muses goodbye
and watched the quadratic equation pack its bag,
and even now as you memorize the order of the planets,
something else is slipping away, a state flower perhaps,
the address of an uncle, the capital of Paraguay.

Whatever it is you are struggling to remember,
it is not poised on the tip of your tongue,
not even lurking in some obscure corner of your spleen.
It has floated away down a dark mythological river
whose name begins with an L as far as you can recall,
well on your own way to oblivion where you will join those
who have even forgotten how to swim and how to ride a bicycle.

No wonder you rise in the middle of the night
to look up the date of a famous battle in a book on war.
No wonder the moon in the window seems to have drifted
out of a love poem that you used to know by heart.

Billy Collins