Oct 30, 2009

the happening world

Das eiskalte Wasser trifft mich wie ein Faustschlag und aktiviert die Bereiche des Gehirns, die ganz hinten liegen. Noch vor einigen Stunden wollte ich die Sveta Sava anschauen gehen, bis mir auf dem Weg eingefallen ist, dass die ja in Belgrad steht, ich aber auf meinem Fahrrad in Berlin sitze. Die Desorientierung hat abgenommen in den letzten Tagen, aber gewisse Bremseffekte bleiben eben. Der Alkohol hier macht nicht wirklich betrunken, nicht so wie das Bier aus Sarajevo, das wir uns im Transit-Zug in 2.5L-Portionen genehmigten. Das Geplauder auf Parties hat nicht diese drängende Wichtigkeit, diese existentielle Note, die wir in Belgrad fanden. Wenn man aus dem Osten in den Westen kommt, wird alles etwas schaler und eindimensionaler, und man fragt sich, wie die Menschen hier mit dem ganzen Sinnverlust überhaupt umgehen.
Erkennt das Gehirn die Zustände vor den eigenen Augen nicht wieder, erfindet es eben Sachen dazu. Nur unter dem eiskalten Wasser, mithilfe seiner hinteren Bereiche, wusste ich wieder, wo ich war: unter einer kalten Dusche an der Schönhauser Allee.

Oct 29, 2009

Fast Sarajevo XXXIII

Der Legende nach fürchtete der osmanische Erbauer Mimar Hajrudin (Schüler des Architekten Mimar Sinan) einen Einsturz der waghalsig konstruierten Stari Most sosehr, dass er ihre Fertigstellung aus sicherer Entfernung überwachte, da er angeblich bei einem Kollaps seines Prachtwerks einen Kopf kürzer hätte gemacht werden sollen. Ein Bote überbrachte ihm die Nachricht, dass die Brücke hielt. Woraufhin er allerdings in Richtung Türkei ritt, schwer erkrankte auf der Reise und später starb.

Die Brücke war im Bosnien-Krieg ein beliebtes Ziel. Im November 1993 schliesslich zerstörte ein direkter Treffer aus den Reihen der kroatischen Armee das schöne Bauwerk. Um den Einsturz selbst ranken sich Verschwörungstheorien. Bill Clinton konnte der Wiedererrichtung der Brücke im Jahre 2004 beiwohnen. Die Neukonstruktion, die identisch zur alten Form war, symbolisierte den Aufbau des geschundenen Landes und verband gleichzeitig die beiden ehemaligen Kriegsparteien miteinander - die Kroaten, die vornemlich auf dem linken Ufer siedeln, und die Bosniaken, die rechts wohnen.

Oct 28, 2009

Fast Sarajevo XXXII

Mostar - 17.09.

Als wir, von Dubrovnik kommend, das Tal der Neretva gen Norden fuhren, sahen wir Regenwolken, die schwerer waren noch als jene an der Küste. Über Mostar tobte ein Gewitter, die Strassen waren knöchelhohe Planschbecken, das Ampelsystem hatte nach elektrischer Überladung den Geist aufgegeben und blinkte in verständnislosem Orange. Einige alte YUGO-Fabrikate standen ausser Gefecht gesetzt auf den Strassen herum. Selim lekte seinen neuen Fiat zielsicher durch das Chaos mit einer Extrarunde über den Fluss, so dass ich von einer Nachbarbrücke aus die Stari Most sehen konnte - das Wahrzeichen von Mostar und Hercegowina überhaupt. Most-ar: Brücken-Hüterin. Die Stadt ist in das Tal entlang der Neretva gezwängt, an deren steilen Ufern sich unzählige Cafés und Restaurants vor und hinter der Stari Most drängen. Die meisten sind nach den sintflutartigen Regenfällen geschlossen, als ich nachts die Gassen des alten osmanischen Viertels erkunde.

Dubrovnik: Einziger Ort in (okay: vor) der Stadt ohne Touristen.



Bei jeder Grosswetterlage schön anzusehen: Most-ar.

Oct 26, 2009

1 Gedicht/Nacht

Prosa diesmal:

«In meinen Träumen seh ich eine Stadt zum Leben. Wo die Häuser Frisuren tragen aus rostigen Antennen. Wo Eulen in geborstenen Dachstühlen wohnen. Wo laute Musik, Rauchskulpturen und das satte Klicken von Billardkugeln aus den oberen Stockwerken maroder Industrieanlagen dringen. Wo jede Laterne aussieht, als beleuchte sie einen Gefängnishof. Wo man Fahrräder zum Abstellen ins Gebüsch drückt und Wein aus schmutzigen Gläsern trinkt. Wo alle jungen Mädchen die gleiche Jeansjacke tragen und ständig Hand in Hand gehen, als hätten sie Angst. Angst vor den anderen. Vor der Stadt. Vor dem Leben. Dort laufe ich barfuss durch Baustellen und sehe zu, wie mir der Matsch durch die Zehen quillt.»

Juli Zeh - Corpus Delicti

Oct 25, 2009

Bewegte Bilder

Auf die Kritik, dass der Nachrichten- und Echtzeit-Stil nicht über den gesamten Film aufrecht erhalten wurde, kann ich nur mit Kopfschütteln antworten. Wie Fernseh- und Youtube-geschädigt sind denn die Kritiker, wenn sie allen Ernstes 112 Minuten fordern, in denen sich Interview-Einblendungen, Überwachungsvideo und Live-Handkamera abwechseln? Ich empfand es als beruhigend für das Erzähltempo, dass diese Techniken nicht im Übermass eingesetzt wurden. Dem Anfang des Films schadet es vielleicht, weil er etwas langatmig gerät, umso mehr profitiert der Mittelteil davon, der schockiert.

Schon eine halbe Ewigkeit ist es her, dass «District 9», von unkonventionellen Werbemethoden flankiert, in die Kinos kam - electronicdreams gibt nichtsdestotrotz noch über einen Monat später eine uneingeschränkte Anschauempfehlung. Grandioser Hauptdarsteller, politischer Bezug, ungeschminkte Actionszenen und Spannung.

Spielzeiten Berlin

Webseite mit Trailer


«District 9» von Peter Jackson.

the happening world

«Krise, welche Krise?» hallt es immer und immer wieder durch die Traumarchitektur in einer Samstagnacht, in der ich umherirre. Die Krise ist in der Traumwelt angekommen, aber sie hat hier keine wirtschaftlichen Indikatoren, durch die sie zum Ausdruck kommen könnte, es gibt keinen Export und keine Industrie, alle Produktion ist materielos und die Seile und Ketten, die die Traumwelt an der richtigen Welt festmachen, sind Einbildungen. Die Zeiger der Traumzeit sind Büschel aus Trollhaaren, die sich in den Traumuhren drehen, vorbei an Ziffern, welche ihren Wert von Stunde zu Stunde ändern. Nein, es gibt keine Krise. «Ja, welche Krise?», frage nun auch ich, als ich mir der Sinnlosigkeit dieses Wortes bewusst werde, ich versuche mir vorzustellen, wie ein ganzes Heer aus Traumkämpfern dieses Refugium gegen die Widrigkeiten einer realen Welt verteidigt, und ich reihe mich ein. «Deine persönliche Krise!» kommt aber schon die Antwort, sie hallt fortan durch alle Gänge, in allen Räumen und Hinterhöfen der Traumarchitektur.

In den Morgenstunden eines Sonntags mischt sich die Erinnerung an die Warnung langsam in das Gefüge der Realwelt, zwischen die Regentropfen und die Dielen am Boden. Langsam und behutsam dringt der Hinweis in diesen Raum ein, legt sich auf die hölzernen Tatsachen (die Exporte stabilisieren sich) wie der Kaffee, der durch den Milchschaum fliesst und auf der Milchschicht am Boden des Glases zu Liegen kommt. Die persönliche Krise ist butterweich eingepackt zwischen warmer Sojamilch und dem Schaum darüber.

Oct 23, 2009

1 Gedicht/Nacht

Der Radwechsel

Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
mit Ungeduld?

Bertolt Brecht

Oct 21, 2009

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Späte Bilderschau, Montenegro.

Auf den Taschentuch-grossen Plätzen von Kotor lässt sich nicht anständig fotographieren:


Die Bucht von Kotor - von Tivat aus besehen sieht sie zart aus, friedlich und undramatisch. Aber auch hier erreichten uns die plötzlichen Schauer und die Wolken, die weiter rechts (nach Kotor hin) noch weitaus wagnerianischer wirkten.


Schwarze Seen inmitten der dunklen Berge: Crno Jezero, ein kleiner Fussmarsch entfernt von Žabljak.


Regnet es, regnet es nicht? Ähnlich wie in Berlin murmelte ich oft «Das zieht vorbei» vor mich hin - "Regenklamotten" hatte ich ohnehin schon am Leib, und im Gebirge gab es vereinzelte Hütten, Sommerschlafstätten der Schäfer. Sicherer konnte ich vor dem Regen nicht mehr sein.


Ade, Welt! Letzter Blick zurück auf das «Häusermeer» von Žabljak, dann noch eine halbe Stunde Marsch den Berg hinauf, wo es schönere Ausblicke gibt - ohne Häuser, nur mit Grün und Schafen.


Kanjon Tare, Schmuckstück von Durmitors Norden und gleichzeitig so etwas wie seine obere Begrenzung. Hier ging ich nicht weiter - es waren 1300 Höhenmeter bis dort unten und vier Stunden bis nach Hause, wo ich vor der absoluten Dunkelheit sein wollte.


Durmitor - die dunklen Berge in ihrem Normalzustand.

the happening world

Ist das schlechte Gewissen (oder das, was davon noch übrig ist) erst einmal überwunden, kauft es sich ganz ungeniert. Mein liebstes Bosnien-Buch ist irgendwie verschwunden, also wird es flugs nocheinmal bestellt. Wenn ich schon dabei bin, denke ich. Bei den historischen Romanen werde ich fündig. Auf dem Rückweg zur Kasse bleibt erst mein Auge, dann auch meine noch freie Hand an einem Exemplar von Zehs neuem Buch hängen. Wenn ich schonmal dabei bin, seufze ich, zahlen tu ich aber erst, wenn auch der Jergovic da ist, seit einiger Zeit empfinde ich das Geräusch, mit dem meine Karte durch dieses Lesegerät gezogen wird, als immer schlimmer, es ist schon etwas richtig Physisches geworden, ich schaudere dabei und fühle mich nicht mehr um den Betrag «erleichtert», sondern «gebracht». Nachdem ich gesellschaftlich wieder heruntergestuft wurde und nurmehr Student bin, lassen die Gefühlswirren des Prekariats nicht lange auf sich warten. Und inmitten dieser finanziellen Undefiniertheit kommen Bücherrechnungen wie ein fetter Kloss im Hals daher - eigentlich sollte ich das nicht machen, aber irgendwie brauch' ich diese Lektüre.
Wo doch im Buchladen sowenig Poetisches lauert, hier eine andere Auswahl.

«Once you been dancing with the devil
and now you're the devil yourself
and all of a sudden you will end up
like a book, in a shelf.»
-slut/600

«Es war September. Ein Falter hatte sich auf mein Augenlid gesetzt; er hatte sich in die Bewegung der Wimper verliebt. Zeitgleich mit dem Öffnen und Schliessen des Auges schlug er seine Flügel.
Ich komme nur ganz kurz hierher. Berge und Wolken, Vögel sind dort. Ich sehe sie nicht.
Meine Augen sind geschlossen, geschlossen.
Ich komme nur ganz kurz hierher. Es gibt keine Augenlider. Berge und Wolken, Vögel sind dort. Ich höre sie.
Ich bin an diesem Ort verloren.»
-Kracht/Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten

Oct 18, 2009

1 Gedicht/Nacht

Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Rilke.

Oct 16, 2009

Fast Sarajevo XXXI

Ich stand in Herceg Novi am Busbahnhof und überlegte, ob ich hier, im touristischen Moloch, nächtigen sollte, oder in Dubrovnik. Ich entschied mich für Dubrovnik.

Diese Stadt ist eine durchindustrialisierte Feriensiedlung, mit Glastüren-Entrées und Lobbies mit Wifi. Dabei ist die Anfahrt von Süden so schön: Erst schwebt man auf der Küstenstrasse über der alten Stadt, erhascht ein, zwei lange Blicke auf die Bucht und die unifarbenen Häuser. Dann taucht man hinab an der Altstadt vorbei durch den Berg und erblickt links die neue Stadt auf der Lapai-Halbinsel, mit dem vorgelagerten Hafen, in dem grosse Kreuzfahrtschiffe ankern. Kurz vor der extrem stylischen Hängebrücke biegt man recht ab, bekommt eine andere, ruhigere Bucht zu Gesicht, um dann schliesslich, auf Meereshöhe, eine weitere, unmögliche Kehrtwende durchzuführen, die einen nach einem weiteren Schlenker in den hässlichen Busbahnhof neben dem Hafen bringt. Das Hostel, in einer Seitenstrasse mittig auf der Halbinsel gelegen, war das teuerste, das ich je von innen gesehen habe. Der «welcome drink», extra angepriesen, war ein einfacher Pflaumenrakija, den es in jedem anständigen albanischen oder serbischen Haushalt anstandslos zur Begrüssung, zum Abschied oder einfach so gibt. Er half mir, den Preis pro Nacht zu verdauen. Auf der Terrasse lümmelte eine kleine Gruppe von Männern mit schwerem englischen Akzent vor ihren Laptops. Das war es also, wonach ich mich in der Einsamkeit der Bergwelt Montenegros gesehnt hatte: ein tolles Hostel mit netten Gästen! Aber so war es eben, das Backpackerleben: In jeder etwas zu besiedelten Ecke sehnt man sich nach dem Charme des Rustikalen.

Die Fussgängerzone, die ich alsbald erkundete, bot nur schicke Restaurants mit Hollywoodschaukeln. «Wann kommen hier die qualmigen Bruchbuden, in denen köstliches Grillfleisch und kühles Bier angeboten werden?» - sie kamen nicht. Stattdessen kam ein 1-Meter schmaler Streifen Kiesstrand, der mir im Hostel als Badestrand verkauft worden war. Das gesamte Ufer säumten Restaurants mit ihren Terrassen, von denen einige schon geschlossen waren - die Saison war vorüber - was den mageren Strand besonders trist erscheinen liess. Ich mochte Dubrovnik einfach nicht, aber woher kam meine schlechte Laune? Lag es am Wetterwechsel, den Preisen, oder einfach am Buslag?

Der Hostelbesitzer vergass nicht zu erwähnen, dass diese Stadt jahrhundertelang den Türken widerstanden hatte, während die Serben in Kossovo kollektiv gefallen waren. Dubrovnik mag eine beeindruckende Handelsmacht gewesen sein damals, auf einer Halbinsel mit nicht einmal einem Kilometer Länge. Um die Türken fernzuhalten, hatte Dubrovnik mit aufwendigen Gesandtschaften eine Menge Tribut gezahlt.

Oct 14, 2009

Wir studieren wieder

Nach einigem Hin und Her dann doch eingeschrieben und gleich die ersten Tage Uni verpasst, weil ich noch in Polen war. Jetzt ist die grosse Frage: Wie geht es weiter? Und wo muss ich morgen eigentlich hin? Die Vorlesungen, nach denen ich mich jetzt, nach einem Jahr der industriellen Arbeit, wieder sehne, sind im Netz der FU nicht so einfach zu verorten wie noch in Zürich. Die schattenhafte Institution in Dahlem, für die ich mich ja gänzlich aus einem Bauchgefühl heraus entschieden habe, liegt noch etwas im Nebel, erscheint aber schon sympathisch. Ganz unprätentiös heisst es hier:

«Die eigentliche Studiensituation ist leider ein wenig kompliziert.»

Weiter erfahre ich aber:

«Eigentlich wäre es also hohe Zeit, die Ordnungen an die aktuelle Entwicklung anzupassen, nur sehen wir in der augenblicklichen Großwetterlage noch nicht, wie wir Ihnen dabei ein Studienangebot erhalten können, was so attraktiv ist wie unser derzeitiges. Inzwischen gibt es nämlich vom Grundsatz sicher löbliche, in der Umsetzung in unseren Augen jedoch überbürokratisierte Bestrebungen zur Vereinheitlichung der Studiengänge. Sich daraus ergebene Probleme, von denen man schmerzlich oft in den Zeitungen lesen kann, wollen wir nicht zwangsweise an Sie durchreichen und halten deshalb im Augenblick noch an unserem Studiengang fest, der ohne Probleme funktioniert.»

Es sieht ja geradezu so aus, dass ich an eine der letzten menschlichen Inseln im akademischen Meer geraten bin.

Oct 13, 2009

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Späte Bilderschau, Albanien:

Tirana - meine grosse Liebe am kleinen Fluss.


Gjirokastra - meine grosse Liebe im trockenen Hochtal.


«Wir wurden zwar erobert, DIE hier haben wir aber erbeutet: Deutsche Geschütze zur rechten, italienische zur linken.»

Fast Sarajevo XXX

Der Minibus schaffte die Strecke Zablak-Herceg Novi in rekordverdächtigen fünf Stunden, inklusive Fahrzeugwechsel und Tanken. Wir waren morgens um sechs losgefahren, als das Dunkel um meine einsame Hütte vollkommen war, die Kälte nass und die kleine Busstation das einzige Licht, auf das ich durch den Wald und über die Felder hin zustolperte. Bei der Abfahrt tränten uns die Augen, aber wohl weniger wegen Wehmut denn wegen dem teuflichen Gequalme in dem kleinen Fahrzeug. Auf Bergstrecken schien Rauchen noch mehr angesagt zu sein als ohnehin schon, ich hatte aber eben erfolgreich einige rauchfreie Tage hinter mir und wollte noch bis Bosnien mit dem Wiederanfangen warten.

Oct 10, 2009

1 Gedicht/Nacht

Worte

Man hatte uns Worte vorgesprochen, die von nackter Schönheit und Ahnung und zitterndem Verlangen übergiengen.
Wir nahmen sie, behutsam wie fremdländische Blumen, die wir in unsrer Knabenheimlichkeit aufhiengen.
Sie versprachen Sturm und Abenteuer, Überschwang und Gefahren und todgeweihte Schwüre -
Tag um Tag standen wir und warteten, daß ihr Abenteuer uns entführe.
Aber Wochen liefen kahl und spurlos, und nichts wollte sich melden, unsre Leere fortzutragen.
Und langsam begannen die bunten Worte zu entblättern. Wir lernten sie ohne Herzklopfen sagen.
Und die noch farbig waren, hatten sich von Alltag und allem Erdwohnen geschieden:
Sie lebten irgendwo verzaubert auf paradiesischen Inseln in einem märchenblauen Frieden.
Wir wußten: sie waren unerreichbar wie die weißen Wolken, die sich über unserm Knabenhimmel vereinten,
Aber an manchen Abenden geschah es, daß wir heimlich und sehnsüchtig ihrer verhallenden Musik nachweinten.

Ernst Stadler, 1914.
Gelesene Version: «Deutschlands Rohstoffzukunft liegt in der Poesie»

the happening world

Vor kurzem mal wieder von einer Welt geträumt, in der Stille herrscht und die Menschen allesamt bedächtig und rücksichtsvoll sind und sich ausschliesslich auf substantielle Weise äussern. Eine ruhige Welt, in der das Wort, oder das Geschriebene, tatsächlich einen Wert hat, in der Respekt vor Äusserungen existiert, und Achtsamkeit in persönlichen, politischen, ökologischen Dingen. Wenn es keine Möglichkeit gibt, akustische Verschmutzung zu betreiben, vielleicht fällt einem dann übermässige Emission im Allgemeinen schwer. Eine solche Welt wurde schon an anderer Stelle als Tagtraum imaginiert, auch wenn sie dort eine industriell erzeugte Note trägt, die in meinem Gefüge aus synaptischen Erfindungen naturgemäss keinen Platz hat. Schweigen ist wertvoll. Vielleicht wäre die Welt plötzlich sehr viel reicher, wenn alle schwiegen.

Fast Sarajevo XXIX

Es war spät, als ich in dem kleinen Dorf ankam und die Pension das einzige Haus, in dem noch Licht brannte. Kein Zimmer war mehr frei, aber die Wirtin bedeutete mir, dass ich im Schankraum nächtigen könnte. Sechs, sieben ältere Männer sassen um einen runden Tisch in der Mitte des Saales herum, vor ihnen eine Ansammlung von leeren Tocéno-Flaschen und Gläsern mit Rakija-Pfützen. Ich versuchte, die Dauer ihres Gelages an der Anzahl Fingerabdrücke auf den Gläsern abzuschätzen, der Tisch, die Gläser und die Menschen aber verschwammen mehr und mehr vor meinen Augen, im Schrankraum hing Tabakrauch in dicken Schwaden. Die Männer schauten mit verquollenen Augen zu mir herüber, als ich meine Schlafstatt in einer Ecke einrichtete. Einer von ihnen brachte von der Theke ein frisches Glas mit Rakija zu mir herüber und bot mir eine Drina-Zigarette an. Schläfern nahm ich beides entgegen. Der Dielenboden war eine harte Unterlage, aber ich erwartete den Schlaf sehnsüchtig.

Später in der Nacht wurde ich unsaft geweckt. Es war die Wirtin. Meine Reisebegleiter seien eingetroffen, verkündete sie unwirsch. Hinter ihr, im schwachen Schein der Wandlampen, standen Allan und Seth. Ausser uns war niemand mehr im Saal. Die beiden mussten mächtig Radau gemacht haben, um die Alte aus dem Bett zu kriegen.

Wir müssten mit der Markierung der Wanderwege in der Region fortfahren, teilten sie mir mit ernsten Gesichtern mit. Ob ich denn unsere Verabredung vergessen habe? Natürlich nicht, log ich, ich hätte nur verschlafen wegen der anstrengenden Tage zuvor, in Albanien. Mein Körper war so hart wie die Dielenbretter. Hastig packte ich alles zusammen und schulterte meinen Rucksack. Draussen vor der Tür verschluckte uns die eisige Schwärze der bosnischen Nacht.

Allan musste mittlerweile eine Koryphäe auf dem Gebiet der Wanderweg-Markierungstechnik sein, dachte ich, dass man ihn bereits in anderen Ländern anforderte, noch dazu mitten in der Nacht. Wie wir in dieser Dunkelheit den Weg finden, geschweige denn markieren sollten, war mir ohnehin ein Rätsel. Diese Albaner, dachte ich, völlig unrealistisch in ihrer Einschätzung und unüberlegt in der Durchführung. Mein Rucksack wog schwer auf meinem gebeugten Rücken, aber auch meine Kameraden hatten schwer zu schleppen, wie ich jäh erkannte. Sie hatten riesige Schlaufen von Seil umgebunden, Haken zum Klettern baumelten von ihren Rucksäcken, Allan trug darüber hinaus noch ein Zelt unter dem Arm.

-der bosnische Traum/Zablak.

Oct 9, 2009

Fast Sarajevo XXVIII

Zablak, Durmitor: 16. IX

In der kleinen Hütte, in der ich mich für fünf Nächte einquartiert hatte, gab es genug Platz, um von der Tür aus nach links oder rechts auf eines der beiden Betten zu fallen. Zwischen den Betten war etwas Stauraum für den Rucksack. Hinunter in den Ort war es ein halbstündiger Marsch, Zablak erinnerte mich an ein kleines Skidörfchen, dabei war es noch nicht einmal echter Herbst und das finstere Durmitormassiv ganz ohne Schnee. Um meine Hütte herum gab es nichts, was auf eine Zivilisation hingedeutet hätte, hier endlich war ich ganz alleine inmitten des gelb-grün-blau-grauen Hochlandes von Montenegro. Monte-negro – die schwarzen Berge. Sie zu sehen, dafür war ich hergekommen, mich von ihrem Anblick einlullen zu lassen, und von den bewaldeten Weiten, über denen die Wolken so tief hingen, dass sie gegen die steilen Berghänge klatschten und dort wie festgezurrt verharrten.

Der Sternenhimmel hier besass den überwältigenden Reichtum, den man leicht vergisst, wenn man sein Leben sonst in den überbelichteten Städten verbringt. Morgens fand ich mich einmal von einer Schafherde eingeschlossen, deren weisse und schwarze Teilnehmer sich zum Schlafen um meine Hütte drapiert hatten. Ich unternahm lange Wanderungen hinauf in die Berge, durch die waldgesäumten Ebenen und an den Rand der nahegelegenen Schlucht, die beinahe so tief ist wie der Grand Canyon. Mit meiner löchrigen Jeans, meiner orangenen Stofftasche, die vielfach als «Omabeutel» bezeichnet worden war (und bei Gästen in Cafés und Restaurants regelmässig verhaltenes Gelächter hervorrief, wenn ich mit ihr vorbeilief), dem H&M-Überwurf, der kaum als Regenjacke bezeichnet werden kann und der Einkaufstüte des Supermarkts, in der mein Proviant steckte, muss ich ein ziemlicher Anblick gewesen sein. Hier im Hochland kam der Regen, den ich am Meer schon erahnt hatte; mal nieselte es und mal schüttete es in Strömen, so dass ich abends oft in meine Hütte flüchtete und dort unter dem ohrenbetäubenden Lärm der Tropfen schlief und träumte.

Oct 7, 2009

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Späte Bilderschau, Mazedonien

Skopje

working hours

Ohrid

the happening world

Der Regen kam dann doch noch. Es kann ja nicht angehen, dass ein voller Tag ganz ohne ihn vergeht. Die Stunden zuvor, im warmen Kinosaal, trugen aber dazu bei, dass ich ganz ohne Vorbehalte durch das Nass nach Hause fuhr.

Die Lesung am Montagabend war mein Eintritt zurück in die lasterhafte Welt Berlins, mit Berliner Bier, französischen Zigaretten, deutscher Kultur. Juli Zeh, die bei einem der Bosnien-Projekte des Zentrums für Politische Schönheit Mitunterzeichnerin gewesen war, las aus ihrem neusten Buch «Corpus Delicti». Das Ganze wurde vertont von Slut. Als wir aber dort sassen, in den vertrauten Sitzreihen des Babylons am Rosa-Luxemburg-Platz, präsentierte sich uns das Ganze nicht als wohlgeordnete Struktur von Literatur und Musik, sondern als ohrenbetäubende, ja die Sinne betäubende Mischung von Theater, Drama und dystopischer Erzählung. Die Visuals, welche sich anfangs noch brav an die ihnen zugewiesenen Leinwand-Flächen hielten, füllten alsbald die gesamte Bühne aus, wuchsen, formten sich zu Bildschauen der fiktiven Darsteller der Geschichte aus, um dann wieder zurückzusinken in komplexe Aberrationen, nur um wenig später im Verlauf gebündelt als wachsweisse Figur auf einem Leintuch zu erscheinen, das einer der Musiker vor sich aufspannte. Juli Zeh, als Charakter ihres eigenen Buches, redete mit dieser Figur aus Licht, die sich bewegte und den Kopf neigte, umrundete sie und liess sie so Wirklichkeit werden. Die Musik von Slut, die ich in nicht allzu grauer Vorzeit ja als zu simpel und zu hart (If I had a heart) wahrgenommen hatte, erschien hier vollkommen verwandelt. Sie war elektronisch, tiefer, aber auch intensiver geworden, eindringlich summten, quäkten und hämmerten die synthetischen Grundzüge dieses Konstrukts aus Schall (so auch der Titel des Albums von Slut: Die Schallnovelle) uns entgegen, auf denen sich dann Gitarren, Handorgeln, Keyboard, Schlagzeug und nicht zuletzt der wunderbare Gesang stapelten. Hören! Alle weiteren Termine auf Sluts myspace.

Oct 5, 2009

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Was habe ich die streetart vermisst! Zwar ist in den Städten des europäischen Südostens ebenfalls Kunst an Hauswänden zu finden, dem ungeschulten Auge fallen aber besonders die einfachen Schriftzüge wie «1389» (Jahr der Schlacht auf dem Amselfeld, Kosovo) oder das durchgestrichene Emblem von EU-MIK/LEX auf. Beim Durchsehen der älteren Beiträge in meinem Reader bin ich richtig überrascht, was in Westeuropa/anderswo so alles passierte.

Klar, da war die Wahl gewesen, und überall, wo deren Plakate hängen, werden sie auch gerne modifiziert oder um hilfreiche Bemerkungen erweitert. Ein Beispiel davon, das es im first life und auf Youtube zu einiger Berühmtheit gebracht hat, war der "Und alle so YEAH"-Flashmob beim Auftritt der Kanzlerin in Hamburg am 18.September (später auch Wuppertal). Auslöser war ein freudiger Zuspruch eines unbekannten streetartKünstlers gewesen.

Yeah-Chöre auf Youtube

Ausserdem: MUTO, a wall-painted animation by BLU

MUTO a wall-painted animation by BLU from blu on Vimeo.



beides von rebel:art

Oct 4, 2009

Fast Sarajevo XXVII

In Tivat mimte ich einen Franzosen. Ich gab meinem Englisch einen schnarrenden R-Laut, redete trocken, aber mit einem Singsang, der so musikalisch und fliessend war, dass es klang wie angeboren.

Die Russen haben Budva in Beschlag genommen, von ihnen kommen in den letzten Jahren mehr und mehr in die Küstenstadt am Fjord von Kotor, sie gelangen dorthin mit ihren grossvolumigen Wagenkolonnen oder dem Privatjet. Montenegro hat den Charme von Italien mit französischen und slawischen Sprenkeln, die Städte am Meer sind Ansammlungen von Palazzi, umrahmt von grimmig aussehenden Mauern, die sich bis in die Felshänge über der Bucht hinauferstrecken. Man kann hier alles mieten; von Autos über Clubs und Yachten bis hin zu Learjets für einen kurzen Ausflug an ein anderes Meer, oder einfach bleiben und vom ohrenbetäubenden Musikwirrwarr in den engen Gassen Kotors überrascht werden, das die Bars und Kneipen ab 10 Uhr abends veranstalten. Durch die beengten Verhältnisse durchdringt der Electropop jeden Winkel des Stadtfleckens, nachts gehört der Ort den Jungen.

Oct 3, 2009

the happening world

«Notausgang, Fenster», sage ich, und die Frau hinter dem Schalter reicht mir die Bordkarte, die ich irgendwie immer als Konzertticket identifiziere. Die 650-Kilometer-Symphonie, zweistimmig, 250 Zuhörer.

Als wir über den nassen Asphalt in Tegel rollen, sehe ich, dass es keinen Finger geben wird. Zuhause warten Rechnungen, Mahnungen und eine Wohnung, in der ich mich nach so langer Abwesenheit fühle wie ein Alien. Ich bin wieder zuhause.