Apr 20, 2010

1 Gedicht/Nacht

«Die Werbeagentur Scholz&Friends hat wenig Glück mit dem Timing einer Kampagne. Ein Vulkan, der Asche speit, ist der Mittelpunkt eines aktuellen Werbespots für einen Siemens-Staubsauer. Das Gerät saugt die Aschewolke sofort und mühelos wieder ein. Auch wenn diese Bilder bei so manchem Aschegeschädigten auf wenig Begeisterung stossen dürften, soll der Film weiterhin im Fernsehen zu sehen sein. Schon im Januar hatte Scholz&Friends Pech: Damals wurde ein Spot für das deutsche Handwerk gestoppt, weil darin reihenweise Gebäude zusammenstürzten - ausgerechnet, als in Haiti die Erde bebte.» /faz.

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«Viele junge Bosnier&Herzegowiner nahmen an den Balkankriegen teil; sie schwammen über die Drina oder überquerten die montenegrinische Grenze bei Nacht, um bei den Freiwilligencamps anzuheuern, die wie Pilze aus dem Boden schossen und der serbischen Armee als Vorposten dienten bei ihrer Eroberung von Mazedonien. Jene Bosnier aber, die Zuhause blieben, sollten als Attentäter für immer unbrauchbar bleiben.»
Rebecca West über die Zeit vor dem Attentat in Sarajevo, 1914.

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Es ist lange her, seit vom Fahrrad mit Seltenheitswert berichtet wurde. Hier ist es nun endlich, frisch geputzt und bereit für den Frühling:

Weil die Frühlingsgefühle auch bei mir grenzenlos sind, hat das Fahrrad mit Seltenheitswert nun eine Schwester, oder eher eine Konkurrenz bekommen. Sie ist etwas jünger, und ich werde damit vermutlich etwas älter, weil ich mich nicht mehr so viel bewege.

Apr 13, 2010

1 Gedicht/Tag

Entgleite nicht


Wer hätte damals das gedacht!?
Von mir!? — Wie war ich davon weit!

Dann stieg ich, stiegen wir zu zweit
Und sagten glücklich vor der Nacht;
„Kehr nie zurück, bedankte Ärmlichkeit!“

Es war ein wunderschönes Hausen
In guter, kleinerbauter Heimlichkeit. —

Ganz winzige, herzförmige Fenster gibt's. —

Im reichen Raum vergißt man leicht das Draußen. —

Entgleite nicht, du Glück der Einfachheit.


Joachim Ringelnatz /per Lyrikmail #2184

the happening world

Eine Befindlichkeitsanalyse.

Nachts streifen wir, vom ohnmächtigen Gefühl der Langeweile und dem unbändigen Drang der Entdeckerlust gleichermassen getrieben, durch die Strassen des Bötzowviertels. Rund um den Helmholtzplatz und in der Kastanienallee waren die Kneipen uns einst: eine Heimat. Hier fanden wir stets Linderung von den Grossstadtsorgen, zusammen mit anderen Getriebenen konnten wir uns jeden Abend in wohlbekannte Sessel sinken lassen und erlebten doch immer etwas Neues. Seit einiger Zeit aber kommt uns diese ewige Wiederholung öde vor, wir fuhren Richtung Osten um zu finden: ein Abenteuer. Stellten uns in den Strassen und Bars dort verruchtere, originellere Leute vor, aber fanden: nichts. Es mag etwas gewagt sein, an einem Montagabend die Trinkfreudigkeit der Bewohner eines Viertels beurteilen zu wollen, aber dort war alles so geleckt und brav und still, dass das Adjektiv «bötzig» bei uns von nun an für ebenjene Attribute steht.

Tagsüber streife ich, vom unbändigen Durst nach Wissen und der Lust auf neue Kontakte gleichermassen getrieben, durch die Gänge der Universität. Rund um die Silberlaube und das Institut für Chemie waren mir die Hörsäle, Cafés und Bibliotheken einst: eine Heimat. Jetzt ging ich hier ziellos, noch ohne Lernauftrag, und hatte Mühe mir auszumalen, wie ich dieses Semester rein punktemässig auf die Reihe kriegen sollte. Es fehlte an spannenden, anspruchsvollen Vorlesungen. Gelegenheiten, um sich ganz ursprünglich in der Mensa zum Mittagessen und zum Gespräch zu treffen und danach auf dem Dach in der Sonne zu sitzen, gab es genug; die Beschäftigung mit Skripten und Übungen aber fehlte noch gänzlich.

Apr 8, 2010

Do Chemists dream of electric sheep?

Endlich ist es mal amtlich, oder zumindest so amtlich, wie die Ergebnisse von wissenschaftlichen Studien überhaupt noch sein können. Denn nicht erst seit dem Climategate-Skandälchen sind Forschungsergebnisse einem kritischen Kreuzfeuer aus allen Richtungen ausgesetzt. Halbwissenschaftliche Journale, ja eigentlich jeder Wikipedia-Nutzer fühlt sich ermächtigt, Ergebnisse anzuzweifeln und umzudeuten. Das ist eigentlich gar nicht so schlecht, denn Wissenschaft lebt bekanntlich vom Diskurs. Zweifelhaft ist daran eher die Verbreitung von Halb- und Wahrheiten: Wenn diese in die falschen Hände gelangen, wird darum flugs eine publikationsreife Meldung, und auch ehemals seriöse Agenturen wie die dpa können in den wissenschaftlichen Hochebenen der Forschung eben nicht richtig von halbrichtig unterscheiden (zum Vergleich: Der südkoreanische Klon-Gau des Forschers Hwang Woo Suk 2005 wurde noch in Eigenregie gebaut).

Aber zur Sache: die Publikation trägt den schönen Namen «Do green products make us better people?» und der geneigte Leser wird schon wissen, worauf es hinausläuft, ganz zu meinem Vergnügen natürlich. Es ist ähnlich zur landläufigen Beobachtung, dass Netz-affine und Social-Media-erprobte Menschen nicht unbedingt auch im wirklichen Leben sozial erfahren sind. Beim Thema Öko geht es aber weiter: Eine Studie der Universität in Toronto hat festgestellt, dass Käufer von Bio-Produkten nicht automatisch auch ein besseres Verhalten ihren Mitmenschen gegenüber zeigen. Der Hintergrund: Diese Leute "kaufen" ihr moralisches Gewissen und haben danach das Gefühl, bereits genug erledigt zu haben, so dass sie niemand aufgrund von Unfreundlichkeit etwa anklagen könnte. Ein schönes Beispiel für gutes Marketing und auch dafür, dass diese ganze fair-trade Sache am Kern der Sache (der wäre: eine empathischere Gesellschaft) vorbeigeht.

Apr 6, 2010

the sound für Zwischendurch

the happening world

Aus der Wildnis von Mecklemburg-Vorpommern kommend, beschloss ich, ins Kino zu gehen. Es gibt nichts, was einem dem arteriellen Kreislauf der Grossstadt und all seinen Übeln näherbringen könnte. Die Fahrt allein ist eine Zumutung, erst wartet man auf die Tram und dann nochmal auf die Ubahn, um sich schliesslich über die gargantuesken Distanzen des Potsdamer Platzes zu quälen. Der vom Lande verwöhnte Mensch, der keine Abfahrtszeiten, kein Umsteigen und erst recht keine Menschenmengen kennt und braucht (selbst wenn sie wie an diesem Ostermontag verhalten waren), ist wahrlich schon genervt, bevor er im Kinosessel sitzt. Bis dahin soll es aber noch dauern: Denn erst muss er an der Kinokasse dem unbarmherzigen Preissystem der Filmhausketten begegnen. Damals, mit Avatar, wurde ja der Grundstein gelegt: Satte 12 Euro bezahlte man für eine Karte und 3D-Brille. Studentenrabatt, Dienstagsermässigung oder Gutscheine verlieren ihre Gültigkeit. Dieser Film enthielt alle Zuschläge und Extrakosten, die sich die darbende Filmbranche überlegen konnte: Überlänge, 3D-Technik, Gebühr für Grossraum und Pause. Am Ostermontag, einem Feiertag, bezahle ich 8 Euro für die Studentenkarte. Ich nicke nur apathisch und will endlich zur Popcorntheke. Dort stehen sie schon, alle drei: Die Landmenschen, einfache Wesen aus dünner besiedelten Gegenden, mit ihren iPhones, Rätselheften und Handtäschchen. Dem Thekenrhythmus unserer Grossstadt sind sie nicht gewachsen. Ich versuche, mich schonmal an sie zu gewöhnen, denn bestimmt werden sie während der Vorstellung neben mir sitzen.

Einen Film im Kino anzusehen ist eine Zumutung an sich. Zumindest für werbungssensible Menschen. Was da alles so auf einen einprasselt während den ersten gefühlten 30 Minuten lässt sich an Eindimensionalität nicht überbieten. Schon früher waren Kinowerbungen überdrehte Bildgeschichten, nach deren Betrachtung man nicht immer sagen konnte, wofür eigentlich geworben wurde (die Einblendung des Marken- und Produktnamens löste dann das Rätsel). Heute ist es ähnlich, das Versprechen der Werbung (Glück, Partnerschaft, Sex) aber wurde akzentuiert herausgearbeitet und trifft mich im Kinosessel wie ein faulig riechendes, schleimiges Etwas. Die anderen Zuschauer signalisieren durch Lachen oder verständnislose Kommentare, dass sie äuch verwirrt sind. Die beworbenen Produkte und den Hype darum kann ich in meinem Umfeld aber direkt wiederfinden. Die drei Nervensägen von der Popkorntheke sitzen mittlerweile tatsächlich neben mir, nach dem ersten Werbeblock geht das Licht nochmal an, es wird Eis verkauft. Die folgenden Filmvorschauen wirken richtiggehend blass verglichen mit der Werbung zuvor.

So eine Tortur steht man nur durch, wenn sich der Film, der schlussendlich wirklich gezeigt wird, auch tatsächlich lohnt. Er lohnt sich, und lohnt sich insbesondere in der Originalfassung, da ansonsten die unterschiedlichen englischen Akzente gar nicht zur Geltung kämen. Ein toller Film, auch von der Ästhetik her wirklich sehenswert. Dass so - Verzeihung - altbackene Regisseure wie Polanski so eine moderne Bildwelt auferstehen lassen können, hat mich schon bei Wim Wenders' "Palermo Shooting" begeistert, auch wenn dessen Handlung lange nicht so schlüssig ist wie Polanskis Politikgeschichte. electronicdreams empfiehlt "The Ghost Writer" deswegen uneingeschränkt.