Dec 2, 2008

Fast Frankfurt VIII

«Ein einfaches Gedicht, einfache Reime. Jakub Kolas hatte es 1906 geschrieben, einer der weissrussischen Dichter, deren Statuen in den Minsker Stadtparks standen.

Unser armes Vaterland,
lauter Wälder, Sumpf und Sand.
Dort ist eine kleine Lichtung,
dichter Fichtenwald am Rand.


Kolas hatte das Land in seinem vorrevolutionären Halbschlaf gemeint, aber was hiess das schon, es war immer noch so.»
-Büscher

Kiev weckte mich mit dem blassen Schimmer des Dunstes, der durch die hohen Fenster schien, es war halb zwölf, ich war schweissgebadet, drehte mich auf die andere Seite in diesem Bett, das so fremd schien um diese Uhrzeit, mir aber für die letzten zwölf Stunden wie die letzte Ruhestätte vorgekommen war. Auf dem Gang blickten mich russisch aussehende Mädchen verdutzt an. Das Wasser der Dusche war kalt, sehr kalt, ich wollte nicht warten bis wärmeres kam. Mit einem Rucksack wie meinem kommt man nirgends ungesehen vorbei, ich fürchtete die Rezeptionsfrau und dass ich Aufschlag zahlen müsste, weil ich vermutlich die Check-Out-Zeit verschlafen hatte. Ein solches System war hier aber noch nicht etabliert, ich gelang ungeschoren auf die Strasse, wandte mich nach rechts und stand auf der Kreshatyk. Links von mir lehnte sich ein marmorbrauner Lenin gegen den Wind des Verkehrs, gegen eine gigantische Markthalle – und gegen den Regen. Der Regen hatte nicht aufgehört, er war stärker geworden, und er sollte die nächsten Tage andauern. Ich hatte beschlossen, noch eine Nacht in der Innenstadt zu bleiben und erst dann die Schlafgelegenheit bei Andrii in Anspruch zu nehmen, einem Couchsurfer, der einige Metrohaltestellen entfernt wohnte. Das Hostel, das ich aufsuchte, war eines der drei oder vier, die es in ganz Kiev gab. In einer alten sowjetischen Wohnung eingerichtet ähnelte die «Jugendherberge» einer brackigen WG, deren Zimmer zu Massenschlägen umfunktioniert waren. Es regnete. Der Regen tropfte von den Wellblechdächern in die grossen Pfützen des Innenhofs, auf nassen Teer, Schlaglöcher, Autos. Ich spannte etwas Schnur durch das Zimmer, in dem ich ein Bett ergattert hatte und das jetzt verlassen war, hängte meine nassen Kleider auf und fuhr zurück zur Kreshatyk. Der breite Boulevard, im sowjetischen Volksmund vermutlich «Prospekt» genannt, war ein Architekturmuseum im stalinistischen Stil. Grosse, erhabene Gebäude erstreckten sich zu beiden Seiten, allesamt Neubauten. Ich folgte dem Strassenverlauf in der Richtung, wie sie auch von den Panzern der roten Armee eingeschlagen worden war, damals, nach dem Ende des grossen Krieges. Die Deutschen hatten die Hauptstrasse und die angrenzenden Gebäude komplett vermint hinterlassen und wenig war von den alten Bauten übriggeblieben. Die Fremde war da, um mich herum, mit tausenden Gesichtern, sie schwatzte auf mich ein in hundert Sprachen, wollte mich hier und dorthin führen, aber gab mir nichts zu essen. Sie trieb mich an den russischen Kantinen vorbei, in denen in einem romantisch-ländlichen Ambiente russische Schnellküche serviert wurde. Ich ass nichts, kaufte nur in einem Supermarkt eine Flasche Wasser. Dann ging ich in eine der Kaufhallen, die unterirdisch um die Metrostationen herum gewachsen waren. Hier kaufte ich ein Paar spitz zulaufende Kunstlederschuhe mit eingearbeitetem Wildlederimitat, eine Art, wie es in der Ukraine Mode gewesen war, oder noch immer ist. Mit diesen dünn besohlten Schühchen stiefelte ich in Richtung des Regierungsviertels in der Nähe der Universität, wo ich mir an einem Stand zwei Bananen kaufte, die Kapuze abstreifte und zur deutschen Botschaft ging.

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