Dec 20, 2008

Fast Frankfurt X

Als ich auf dem Weg in die Ukraine Mitte September im ICE nach Frankfurt hineinrollte, als ich die Hochhäuser und die spiegelnden Fassaden der Bankentürme sah, die mächtigen Hallen des Hauptbahnhofs im neoklassizistischen Stil, auf denen die Figuren von Atlas, Dampf und Elektrizität spielen, da war mein Bild von einer Stadt vervollständigt. An dieses Bild musste ich denken, als ich im Transporter an den Kontrollposten vorbei in die Stadt Tschernobyl fuhr, die so etwas wie die Antithese zu diesem Bild darstellt. Die Häuser marode und grösstenteils ungenutzt, verlottert und von der sie umgebenden Natur nach und nach erobert. Die Strassen breite Flächen von Altasphalt, ohne Markierungen und an den Rändern befallen vom Graswuchs. Wasserleitungen verlaufen oberirdisch wie die Arterien der Zivilisation, sie schlagen Tore über die Strassen, wechseln spielerisch die Richtung, finden zusammen und verschwinden in den Hüllen der Gebäude. Ausserhalb der Stadt ist die Strasse oftmals in die Erde eingesunken, es scheint, als ob sie langsam untergeht und verschluckt wird. Es ist, wie wir erfahren, wegen den Aufschüttungen so, weil in grossen Teilen der Zone die oberen Bodenschichten abgetragen wurden und Dörfer oder Anlagen nach der Einebnung unter einem Meter Erde von anderswo begraben wurden. Vorbei an diesen Hügelgräbern, auf denen verwitterte Radioaktivitätswarnschilder stehen, fahren wir durch die sich bis zum Horizont erstreckende Einöde, es regnet natürlich immer noch, die Scheibenwischer erzeugen kurze Fenster, die auf die vor uns liegende Strecke gehen. Inmitten der Leere stehen Ruinen wie Pilze, die einsam wachsen. Eine gigantische Umspannstation. Eine Wasseraufbereitungsanlage, die komplett mit Zement verschalt wurde, die Schutzschicht wirkt wie ein eckiges Kleidchen. Das riesige Wasserreservoir, das sich der Strasse entlang in breiten Kanälen erstreckt, ist wie eine künstliche Auenlandschaft. Die Kanäle sind ein Aquarium mit amputierter Nahrungskette, die Flusswelse darin stehen auf ihr ganz oben und wachsen bis auf zwei Meter Länge heran. In der Ferne sehen wir die Silhouetten der Kühltürme und der unfertigen Reaktorbauten. Sie sind nur bis zur Hälfte fertiggestellt. An den oberen Rändern ragen die Stahlträger und Baukräne wie Stofffransen in den Himmel. Wir sehen von weitem auch schon den eigentlichen Reaktor, wegen dem wir alle hier sind, wegen dem alle kommen, Wissenschaftler, Mystiker, Künstler, Touristen; allesamt Nihilisten. Und alle hinterlassen etwas, hinterlassen Geschichten, Mythen, Bilder, um die Zone um ihren eigenen, persönlichen, manchmal manischen Surrealismus zu bereichern. Wir erinnern uns an die Internet-Sage von «kid of speed», einer Frau, die im Internet Fotos aus der Zone veröffentlichte und vorgab, mit ihrem Motorrad und dem Passierschein ihres Vaters alleine durch die Zone zu brettern. Es war natürlich gelogen, sie war lediglich als Teil einer Besuchergruppe dort gewesen und hatte die Aufnahmen abseits des Busses gemacht und mit einigen interessanten Fakten von Wikipedia angereichert.



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