Jan 28, 2009

Fast Frankfurt XV

Während meinen ersten Tage in Kiev hatte ich mir das kyrillische Alphabet eingeprägt und konnte seitdem zumindest die russischen oder ukrainischen Worte entziffern, ohne sie jedoch zu verstehen. Fahrkartenkauf aber beispielsweise war etwas, das ohne gesprochenes Russisch einfach nicht funktionierte, selbst wenn ich Destination, Uhrzeit und sogar die Zugnummer in Kyrillisch aufschrieb. Die Schalterfrauen waren mir überlegen, allein schon durch ihre Anzahl. Sie konnten mich unermüdlich hin und her schicken, es gab Schalter, die nur für gewisse Abreisezeiten zuständig waren, dann wiederum aber nicht mit Reservationen dienen konnten. Ich liess mir von Couchsurfern die Tickets und Reservationen besorgen, konfrontiert mit russischsprachigen Helfern kapitulierten die Schalterfrauen sofort und stellten bereitwillig alle möglichen Scheine und Fahrkarten aus, auch meine Reservation für die Rückfahrt nach Berlin, ein Heftchen dick wie ein Reisepass.

Ich kam an einem Donnerstagmorgen wieder in Kiev an. Die Rundreise war zu Ende. Die Stadt war wie verändert, der Sonnenschein im Süden war nun auch hier angelangt und das Bahnhofsgebäude in den ersten Sonnenstrahlen des Tages nicht wiederzuerkennen. Ich holte meine Kamera heraus. Doch die Sicherheitskräfte, die überall herumstanden und patrouillierten, wiesen mich zurecht, eine Erfahrung, die ich im dort, im Bahnhofsgebäude, nicht zum ersten Mal mache. Es muss den Anschein haben, als ob im ganzen Land ein Fotographier-Verbot herrscht, mit einigen wenigen Korridoren oder Sichtachsen, die für Bildaufnahmen geöffnet sind, wie zum Beispiel der Blick auf den Reaktor von Tschernobyl. Es hat den Anschein, als ob das halbe Land ein wichtiges Museum ist mit lichtempfindlichen Bildern und Gebäuden, als ob geheimes Wissen überall herumstünde, unabbildbar, nur für den Selbstgebrauch bestimmt.

Jan 25, 2009

tracking with close-ups

Beim Zeitunglesen stach mir die Überschrift einer kleinen Meldung ins Auge: «Jugendliche schiessen Fotos von Suizidopfer». Dank Fotohandys können Sinneseindrücke direkt über elektronische Medien weiter prozessiert werden. Die Kleinkameras schaffen Erinnerungen, bilden Momente ab, werden aber nicht von ihren Benutzern kontrolliert, sondern kontrollieren ihre Benutzer: Trägt man das Ding erstmal mit sich herum, ist der Blick ein anderer, werden die Augen und das Gehirn zu kleinen, viereckigen Ausschnitten der Wirklichkeit, und die Kamera sendet elektrische Impulse an den Finger auf dem Auslöser bei jedem auch nur annähernd denkwürdigen Ereignis innerhalb des rechteckigen Suchers. Die Dinger bringen aber auch Sachen zum Veschwinden:
«Das Fotohandy ist ein seltsamer Hybride, der, folgt man der Theorie der Killerapplikation, bald andere Dinge zum Verschwinden bringen wird - zum Beispiel das Fotoalbum und abgewetzte Familienfotos. Die größte Bedrohung stellt es allerdings für die klassische Postkarte dar.»

Im Gegensatz zum perfekten Motiv der Postkarte geben sich die User also mit dem verwischten, «real» erlebten Auschnitt ihres Lebens zufrieden, senden individualisierte Bilder aus der Jetzt-Zeit, um sich zu erinnern, löschen dabei aber ihre komplette restliche, zeitnahe Umgebung:
«Es gibt eine bizarre Verzögerung: Es vergeht eine Sekunde zwischen Abdrücken und Bild; das vorbeilaufende Kind etwa, das man aufnehmen wollte, ist dann schon davongerannt. So entsteht eine seltsame Galerie verpasster Momente, ein surreales Album von Abwesenheiten.» (FAZ)

Fast Frankfurt XIV

Bei einem Spaziergang durch Odessa finde ich den Buchladen schliesslich, es gibt ein Regal englischsprachiger Bücher. Ukrainische Klassiker wie «The Master and Margerita» oder russische Autoren waren gut vertreten, allerdings zu Preisen, wie sie selbst in der Schweiz nicht denkbar gewesen wären. Ich erstehe «The Great Gatsby». Später gehen wir essen. Mein Gastgeber ist ein Amerikaner, der schon seit vier Jahren in Odessa lebt, er spricht recht gut russisch und wir unterhalten uns mit Leuten auf der Strasse. Seine Vodka-Sammlung ist beträchtlich. Ich habe nur eine kleine Flasche als Mitbringsel, von einer Marke, die ich in Kiev einmal getrunken habe, und die dort als das Beste angepriesen wurde, was die Ukraine zu bieten hat. Natürlich war es ein bloss ein durch geschicktes Marketing gepuschtes Produkt, aber dennoch bekam ich im Penthouse von dem richtig guten Zeug Kopfschmerzen. Odessa hat einen tollen, französischen Charakter, man sagt den Leuten eine eigenartige Ironie nach, sie fühlen sich beinahe als eigenes Volk und nicht als Teil der Ukraine.

Am nächsten Tag fahre ich ab. Dort, wo ich hinfahre, war früher der Schwerpunkt der Schiffbauindustrie, allerdings wurden seit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Unabhägigkeit der Ukraine von Russland viele Betriebe geschlossen. Mykolyaev, eine 600.000-Einwohner-Stadt, besitzt jedoch noch immer einige Grosswerften, in denen auch Kriegsschiffe gefertigt werden. Iryna, eine Couchsurferin, holt mich am Busbahnhof ab. Sie wohnt noch bei ihren Eltern und hat gerade einen Antrag zur Gründung einer Jugend-NGO eingereicht, die erste in Mykolaev. Unter anderem erteilt sie einer kleinen Gruppe von Amerikanern Vertiefungsunterricht in Russisch, wir treffen sie in einem Café neben dem neu erbauten Einkaufszentrum am Prospekt Lenina, dem Riesenboulevard, der durch die halbe Stadt führt.

Dort lerne ich Mandy aus New York kennen, die im Rahmen des Peace Corps der USA Englisch-Unterricht erteilt und mich am nächsten Tag in ihre Lektionen am philologischen Institut der Universität von Mykolaev mitnehmen wird. Englisch studieren vorwiegend Frauen, da die Männer handwerklichen Berufen nachgehen oder eine Ingenieurs-Ausbildung geniessen. So kommt es, dass ich mich in Klassen voller gutaussehener junger Frauen wiederfinde, denen ich etwas über meine Reisen oder mein Leben in Westeuropa erzählen soll. Nicht wenige von ihnen sind schon im Ausland gewesen, sogar in Amerika, was aufgrund der restriktiven Ausreisebedingungen der Ukraine ein nicht zu unterschätzender Aufwand ist. In ihrem zögerlichen, mit wunderschönen ukrainischen Untertöten garniertem Englisch, teils in breitem New-Jersey-Akzent erzählen sie mir von ihren Erlebnissen von anderswo und von den Mängeln ihres Landes und ihren Wünschen für die Zukunft.

Jan 22, 2009

Hört ihr zu?

An einem Ort, wo seit etwas mehr als einem Jahr innovative Musik abseits des elektronischen Mainstreams bereitgestellt wird, wo die Publikationen stets kritisch beleuchtet werden und nicht selten der Künstler selbst noch einige Worte über seinen Mix verliert, hier ist einmal mehr eine Auseinandersetzung mit Musik losgetreten worden. Die Frage, wie man Musik am besten hört, beziehungsweise welchen Stellenwert sie im täglichen Leben einnimmt, beschäftigt auch den Autor dieses Blogs. Dass Musik aufgrund der Verfügbarkeit und dem quantitativen Aspekt eine Meta-Ebene in Hinsicht der Bedeutung erreicht hat, soviel steht fest. Es ist soviel am Klangkörper des Stücks befestigt, dass wir leicht die Essenz der Musik übersehen.

Wahres Zuhören - dafür möchte sich niemand die Zeit nehmen. Vielleicht aber sollten jene, die mehr Zuwendung zur Musik fordern, sich selber mehr Stille (respektive Weltgeräusche) zu Gemüte führen. Denn Musik gewinnt durch ihren Kontext, wie in der Diskussion auf der oben genannten Seite angemerkt wird. Nur - wie kann man den Kontext beurteilen, wenn man ihn nicht hört?

Der Künstler Klaus Waldeck aus Wien hat sich vorletztes Jahr wieder neu erfunden. Sein Stil ist in die Richtung der 20er geflossen, von wo aus er trip-hop-artige Klänge in die Nuller-Jahre schickt. Jazzig.
«Why did we fire the gun» (Last.fm)
Waldeck - Ballroom Stories, Dope Noir.

Jan 21, 2009

Heimwärts, aber wo ist das?

Gestern endlich ist «Valkyrie» in die Kinos gekommen, und seine Qualität straft anscheinend die Verfechter eines Cruise-freien Stauffenberg-Requiems Lügen. Der Film ist mehr als passabel, richtig spannend, gut inszeniert. So urteilt zumindest die Presse. Aus einer Vorahnung, die mich die ganze Jahr über begleitet hat, ist Realität geworden: Wozu eigentlich das ganze Brimborium um die Dialektik, wo das Duo Cruise/Singer spielen dürfe, und ob überhaupt. Es gab da auch einige zweifelhafte Allianzen in Deutschland, die sich für Hollywood starkmachten, allen voran Frank Schirrmacher, einer der Herausgeber der F.A.Z., und sein Kollege, der Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck. Die Insbrunst ihrer Anteilnahme konnte einen zu der Frage bringen, ob es in Deutschland noch wichtigere Fragen gab. Die Antwort, wenn man denn soweit gelangte, lautete: nein. Der Konsens, den man bezüglich des Films nun fand, deutet darauf hin, dass man, natürlich auch im Angesicht drängender Fragen, wieder dazu übergeht, sich konkreteren Dingen zu widmen. Wo, so frage ich, war denn der Fokus des letzten Jahres, wo war die Aufmerksamkeit, wohin war die Tatkraft gerichtet? Wo war Deutschland? So fragt auch die F.A.Z. von heute: «Deutschland, aber wo liegt es?». Selbst Schiller wusste es nicht: «Ich weiss das Land nicht zu finden.»

Jan 20, 2009

«I have an electronic dream»


«On this day, we gather because we have chosen hope over fear, unity of purpose over conflict and discord.»

Jan 18, 2009

Fast Frankfurt XIII

Als ich das Meer erreiche, bricht die Dämmerung herein. Ich lege meinen Rucksack ab, ziehe Hose und Schuhe aus und stakse über den dreckigen Strand zur Wasserlinie. Das Schwarze Meer ist kalt, und dreckig, und erstreckt sich vor mir bis an den Horizont, wo es farblich, nur durch eine dünne, dunkle Linie, in den grauen Himmel übergeht. Für einen Moment bin ich vollkommen alleine. Die Einsamkeit schwimmt irgendwo vor mir, unter Wasser, als unklares und gespenstisches Etwas, das mich weiter in Richtung Horizont lockt. Ich gehe weiter, das Wasser reicht mir bis zum Schritt. Die Einsamkeit umfliesst meine Beine, lässt mich schaudern, ich verschränke die Arme, lasse den Kopf hängen, schliesse die Augen. In der Dunkelheit hinter den Augen erscheinen Nachbilder des Abteils im Nachtzug, des teppichbelegten Korridors, der jungen Frau im Bett nebenan. Schlief ich, hatte ich geschlafen? Das innere Auge öffnet sich zur trüben Wasseroberfläche, auf der ich mein Spiegelbild erkenne, ich erkenne die Fremde, die jetzt in mir wohnt, die mich im Zug alleine gelassen hat, mich aber hier, am Morgen in dieser noch schlafenden Stadt, am Strand, wieder abgeholt hat.

Ich laufe am Ufer entlang, am Industriehafen vorbei und die 192 Stufen der potemkinschen Treppe empor. In der Innenstadt von Odessa finde ich einen modernen Supermarkt, in dem ich mir Vorräte zulege und Arzneien kaufe. Ich will mich gerade auf die Suche nach dem Buchladen machen, wo es englische Bücher zu kaufen gibt, als mich die Couchsurfing-Connection anruft, die ich drei Tage vorher organisiert habe. Für einen Tag und eine Nacht kann ich in einem luxuriösen Penthouse unterkommen und die erste warme Dusche nehmen seit Mannheim, in einer riesengrossen, alten Soviet-Badewanne.

Jan 17, 2009

tracking with close-ups

In einer Ingenieursvorlesung lernten wir, Wärmetransport zu quantifizieren, um gesicherte Aussagen über das Risiko von chemischen Reaktionen machen zu können, bei denen häufig grosse Mengen an Wärme entstehen. Unsere eifrigen und selbstsicheren Assistenten, die aber eben auch der Ingenieursdenkweise verfallen waren, versuchten uns das mit «every-day-examples» näherzubringen. Wir berechneten die Wärmeabgabe einer frisch gebrühten Tasse Kaffee. Der Autor der Aufgabe wollte die Tasse möglichst schnell auf Trinktemperatur bringen, weil er aus dem Haus stürzen musste, Gott allein weiss warum. Es lief auf die Frage hinaus, ob man die kühlschrankkalte Milch gleich dazugeben soll, oder erst kurz vor dem Trinken. Es stellte sich heraus, dass der heisse Kaffee alleine, ohne die Milch, schneller abkühlt als wenn die Milch drin ist.

Die Idee, so eine Aufgabe zu stellen, befremdete mich. Es zeugt vom Geist einer auf Schnelligkeit versessenen, dabei auf Genuss verzichtenden zürcherischen Schule und Denkweise. Der Kaffee muss natürlich lange warmbleiben, und nicht schnell abkühlen! Gemütliche Chemiker stellen nicht die dampfende Tasse auf den Tisch, öffnen womöglich das Fenster, damit kalte Zugluft die Tasse umströmen kann, und nehmen dann eine schnelle Dusche. Gemütliche Chemiker geben die Milch gleich dazu, damit der Kaffee länger warm bleibt, so dass die morgendliche Zeitungslektüre möglichst lange von weckendem und genussreichen Kaffeekonsum begleitet wird.

Jan 16, 2009

the happening world

Aus dem Holzstuhl in einem klassizistischen Studiersaal am Limmatquai, durch den Starkregen an der deutschen Grenze, durch das Quadratsystem Mannheims und durch einen Urlaubstraum hindurch tritt der Autor mehr als vier Monate später aus der Kälte am Kanal hinein in eine geheizte Wohnung am Ring. Die Stadt ist vertraut geworden, die Arbeit auch, die Wohnung, die er bewohnt, die Mitbewohner, die Strassencafés; alles hat den Zauber des Anfangs veroren, und doch erneuert sich das Umfeld und der Elan jede Woche von neuem um ihn herum. Vor drei Tagen schliesslich ist der Autor still und heimlich 23 geworden.

Jan 15, 2009

Wir nannten es Arbeit XII

Zurück aus Berlin erwarteten mich auch in Mannheim eisige Temperaturen, wenn auch nicht so frostig wie im Norden. Der erste Weg zur Arbeit nach dem Urlaub ist kalt. Im Werk hole ich mir an der Kleiderausgabe sofort lange Unterhosen und Unterhemden. Keine zwei Tage später wird eine Alarmmeldung in allen Gebäuden ausgegeben, dass Eisregen droht und man die Zweiräder tunlichst stehenlassen solle und besser die Busse benutzt. Die Durchsage habe ich allerdings verpennt, weil ich erst um halb zehn, zum zweiten Frühstück, ins Labor kam. Der Eisregen ist weniger schlimm als erwartet, es liegt aber eine geschlossene Schneeschicht und ich fahre vorsichtig. Die BASF, für die die Unfallstatistik fast ebenso wichtig ist wie das Ergebnis vor Steuern, möchte uns Fahrradfahrer natürlich von der Strasse haben, da bei Unfällen schnell Verletzungen passieren. Dabei ist der motorisierte Werksverkehr eigentlich dafür verantwortlich, dass wir uns Blessuren holen. Ich schaffte es bis zum Werksausgang unfallfrei und schlitterte erst in Mannheim, auf dem Weg zur Post, beinahe in eine Ampel und in den fliessenden Verkehr.

Jan 12, 2009

Fast Frankfurt XII

Es existieren zigtausend weitere Sagen und Mythen von, über und durch Tschernobyl. Ich habe mir viel Zeit genommen, nach ihnen zu suchen. Es gibt die Erzählung vom Kurzschluss der Maschinen, vom Ende des Elektrischen. So wurde zum Beispiel während der Aufräumarbeiten kurz nach dem Unfall ein deutscher Roboter eingesetzt, der die radioaktiven Trümmer auf dem Dach von Block IV in das Loch schieben sollte, das die Explosion in das Gebäude gerissen hatte. Die Strahlung liess seine Schaltkreise durchschmoren und der Roboter fuhr vom Dach. Radioaktive Trümmer wurden bis weit in die Umgebung geschleudert, wo sie erstmal liegenblieben. Strahlung erzeugt Wärme, weswegen die Umgebung der Stücke für Tiere einen bevorzugten Schlafplatz darstellte. Die Strahlenkrankheit selber, die Auswirkungen und Symptome, waren damals wenig erforscht. Der menschliche Körper wird ganz unterschiedlich geschädigt durch Strahlung, je länger und intensiver, desto schlimmer. Strahlung führt oft zu Verbrennungen der Haut, schädigt innere Organe und kann Krebs und Tumoren erzeugen. Die Feuerwehrmänner, die als erste am Ort der Katastrophe ankamen und das Feuer bekämpfen wollten, wurden schon bald wegen ihres schlechten Zustands in ein Krankenhaus gebracht und später in eine radiologische Klinik in Moskau transferiert. Innert sieben Tagen waren alle von ihnen tot. Sie wurden in versiegelten Zinkkassetten beerdigt, unter Betonplatten.

Von der Strahlung spüren wir nichts. Es regnet, und der Regen wäscht die Luft, hält sie frei von strahlenden Staubpartikeln, die wir einatmen könnten. Dort, im Innern des Körpers, würde die Strahlung ernste Schäden anrichten. Selbst in der Nähe des Reaktors ist die Radioaktivität auf sehr niedrige Werte gesunken, anders sieht es aus in den Wäldern und Feldern, die die Strassen säumen, welche durch die Zone führen. In Prypiat, der Stadt, die ehemals für die Arbeiter des Kraftwerkkomplexes gebaut wurde, gibt es ebenfalls noch Stellen, an denen das Dosimeter höhere Werte anzeigt. Prypiat ist eine Zeitkapsel. Vieles ist hier unverändert, seit die Stadt Ende April 1986 von den 50'000 Bewohnern fluchtartig verlassen wurde. Man findet einige arrangierte Artifakte, wie etwa die Kinderpuppen neben einem Haufen Gasmasken, oder Wandzeichnungen in den Gebäuden. Die Stadt ist von der Natur geradezu überwuchert. Selbst auf dem Balkon des zehnstöckigen Hotels wächst ein Bäumchen aus dem Moos, das den Fliesenboden bedeckt. Wir kommen nur ganz kurz hierher. Es ist früher Nachmittag, als wir wieder in den Transporter steigen und aus der Zone herausfahren. Die Landschaft normalisiert sich wieder, im Geiste zumindest, denn einen sichtbaren Unterschied gibt es nicht zwischen der Wildnis der Zone und den Wäldern kurz vor Kiev.
Ich bin noch in Gedanken versunken, als mein Nachtzug ausgerufen wird, der mich nach Odessa bringt. Ich starre lange meine Wanderschuhe und meine Jeans an, die mir jetzt fremd vorkommen, verunreinigt. Sie waren in der Zone, sind staubig und die Schuhe mit Schlamm verschmutzt. Ich fahre zweiter Klasse, das sind bequeme Vierer-Liegeabteile, ich bin allein bis auf eine junge Frau aus Odessa, die in Kiew ihre Tanten besucht hat. Ich nehme die Landschaft nicht wahr, es gibt nichts draussen zu sehen. Ich habe noch immer den Reaktor vor meinem Auge, wie er in der Landschaft steht, eingezäunt in kleine Betonmauern, gestützt von gelben Krangerüsten und den Stahlbetonbögen des Sarkophags. Der Reaktor summte – es war ein hohes Geräusch in der Nähe zu hören, es schien, als vibriere er.

Bilder aus der verlassenen Stadt Prypiat:



Jan 9, 2009

the happening world

Kurz vor Mitternacht stehen wir dann am Fuss der Kuppel des Berliner Doms, in luftiger Höhe, unter uns die Stadt, die von den Feuerwerkskörpern langsam in Rauchschwaden gehüllt wird. Wir sind die letzte Strecke gerannt, nachdem wir zwischen Silvestertouristen eingepfercht im Tram gefahren sind. Die vielen Stiegen, die von der Vorhalle des Doms hinauf auf die Brüstung führen, stecken uns noch in den Beinen. Der Sekt ist bereit. Es ist fast 2009. Die Bäume auf der Prachtstrasse Unter den Linden sind in glühende Weihnachtsdekoration gehüllt, aber wir sehen es kaum. Wir erkennen knapp noch das Brandenburger Tor, in unserem Rücken ragt der beleuchtete Fernsehturm wie ein grosser Baum in den Himmel, durch einen blauen Schleier hindurch, der von der strahlenden Glasfassade des Interconti erzeugt wird. Die Innenstadt ist jetzt ganz neblig, mit plötzlichen Lichtreflexen und Farben von den Raketen.
Später dann um die Ecke in einer grosszügig geschnittenen Wohnung Schuhe ausziehen, Platz nehmen und wieder Staropramen trinken, das mich stets an Kiev erinnert. An Silvester erst wird mir die richtige Undeutlichkeit der Zahlen bewusst: Ist es schon Neujahr? Muss ich mich jetzt umstellen? Krumme Jahreszahl? Ich komme mit dem Kopf dem Jahreswechsel nicht hinterher, diesem gemächlichen, schwerfälligen Umwälzen, klobige Jahreszahlen, die sich gegenseitig verdrängen. 2008 war dann wohl mal, schöne Symmetrie, die dieses Jahr für sich hatte. Am nächsten Nachmittag lese ich bei einem Kaffee einen Jahresrückblick, der aus der Vergangenheitsperspektive geschrieben ist: «Es beginnt das Internationale Jahr des Planeten Erde, der Sprachen, der Kartoffel, der Hygiene und des interkulturellen Dialogs. Eigentlich kann nichts schiefgehen.»
Wir haben es geglaubt. Es hat funktioniert. Wir haben einen Fuss in die Luft gesetzt – und sie trug.