Jan 12, 2009

Fast Frankfurt XII

Es existieren zigtausend weitere Sagen und Mythen von, über und durch Tschernobyl. Ich habe mir viel Zeit genommen, nach ihnen zu suchen. Es gibt die Erzählung vom Kurzschluss der Maschinen, vom Ende des Elektrischen. So wurde zum Beispiel während der Aufräumarbeiten kurz nach dem Unfall ein deutscher Roboter eingesetzt, der die radioaktiven Trümmer auf dem Dach von Block IV in das Loch schieben sollte, das die Explosion in das Gebäude gerissen hatte. Die Strahlung liess seine Schaltkreise durchschmoren und der Roboter fuhr vom Dach. Radioaktive Trümmer wurden bis weit in die Umgebung geschleudert, wo sie erstmal liegenblieben. Strahlung erzeugt Wärme, weswegen die Umgebung der Stücke für Tiere einen bevorzugten Schlafplatz darstellte. Die Strahlenkrankheit selber, die Auswirkungen und Symptome, waren damals wenig erforscht. Der menschliche Körper wird ganz unterschiedlich geschädigt durch Strahlung, je länger und intensiver, desto schlimmer. Strahlung führt oft zu Verbrennungen der Haut, schädigt innere Organe und kann Krebs und Tumoren erzeugen. Die Feuerwehrmänner, die als erste am Ort der Katastrophe ankamen und das Feuer bekämpfen wollten, wurden schon bald wegen ihres schlechten Zustands in ein Krankenhaus gebracht und später in eine radiologische Klinik in Moskau transferiert. Innert sieben Tagen waren alle von ihnen tot. Sie wurden in versiegelten Zinkkassetten beerdigt, unter Betonplatten.

Von der Strahlung spüren wir nichts. Es regnet, und der Regen wäscht die Luft, hält sie frei von strahlenden Staubpartikeln, die wir einatmen könnten. Dort, im Innern des Körpers, würde die Strahlung ernste Schäden anrichten. Selbst in der Nähe des Reaktors ist die Radioaktivität auf sehr niedrige Werte gesunken, anders sieht es aus in den Wäldern und Feldern, die die Strassen säumen, welche durch die Zone führen. In Prypiat, der Stadt, die ehemals für die Arbeiter des Kraftwerkkomplexes gebaut wurde, gibt es ebenfalls noch Stellen, an denen das Dosimeter höhere Werte anzeigt. Prypiat ist eine Zeitkapsel. Vieles ist hier unverändert, seit die Stadt Ende April 1986 von den 50'000 Bewohnern fluchtartig verlassen wurde. Man findet einige arrangierte Artifakte, wie etwa die Kinderpuppen neben einem Haufen Gasmasken, oder Wandzeichnungen in den Gebäuden. Die Stadt ist von der Natur geradezu überwuchert. Selbst auf dem Balkon des zehnstöckigen Hotels wächst ein Bäumchen aus dem Moos, das den Fliesenboden bedeckt. Wir kommen nur ganz kurz hierher. Es ist früher Nachmittag, als wir wieder in den Transporter steigen und aus der Zone herausfahren. Die Landschaft normalisiert sich wieder, im Geiste zumindest, denn einen sichtbaren Unterschied gibt es nicht zwischen der Wildnis der Zone und den Wäldern kurz vor Kiev.
Ich bin noch in Gedanken versunken, als mein Nachtzug ausgerufen wird, der mich nach Odessa bringt. Ich starre lange meine Wanderschuhe und meine Jeans an, die mir jetzt fremd vorkommen, verunreinigt. Sie waren in der Zone, sind staubig und die Schuhe mit Schlamm verschmutzt. Ich fahre zweiter Klasse, das sind bequeme Vierer-Liegeabteile, ich bin allein bis auf eine junge Frau aus Odessa, die in Kiew ihre Tanten besucht hat. Ich nehme die Landschaft nicht wahr, es gibt nichts draussen zu sehen. Ich habe noch immer den Reaktor vor meinem Auge, wie er in der Landschaft steht, eingezäunt in kleine Betonmauern, gestützt von gelben Krangerüsten und den Stahlbetonbögen des Sarkophags. Der Reaktor summte – es war ein hohes Geräusch in der Nähe zu hören, es schien, als vibriere er.

Bilder aus der verlassenen Stadt Prypiat:



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