Bei einem Spaziergang durch Odessa finde ich den Buchladen schliesslich, es gibt ein Regal englischsprachiger Bücher. Ukrainische Klassiker wie «The Master and Margerita» oder russische Autoren waren gut vertreten, allerdings zu Preisen, wie sie selbst in der Schweiz nicht denkbar gewesen wären. Ich erstehe «The Great Gatsby». Später gehen wir essen. Mein Gastgeber ist ein Amerikaner, der schon seit vier Jahren in Odessa lebt, er spricht recht gut russisch und wir unterhalten uns mit Leuten auf der Strasse. Seine Vodka-Sammlung ist beträchtlich. Ich habe nur eine kleine Flasche als Mitbringsel, von einer Marke, die ich in Kiev einmal getrunken habe, und die dort als das Beste angepriesen wurde, was die Ukraine zu bieten hat. Natürlich war es ein bloss ein durch geschicktes Marketing gepuschtes Produkt, aber dennoch bekam ich im Penthouse von dem richtig guten Zeug Kopfschmerzen. Odessa hat einen tollen, französischen Charakter, man sagt den Leuten eine eigenartige Ironie nach, sie fühlen sich beinahe als eigenes Volk und nicht als Teil der Ukraine.
Am nächsten Tag fahre ich ab. Dort, wo ich hinfahre, war früher der Schwerpunkt der Schiffbauindustrie, allerdings wurden seit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Unabhägigkeit der Ukraine von Russland viele Betriebe geschlossen. Mykolyaev, eine 600.000-Einwohner-Stadt, besitzt jedoch noch immer einige Grosswerften, in denen auch Kriegsschiffe gefertigt werden. Iryna, eine Couchsurferin, holt mich am Busbahnhof ab. Sie wohnt noch bei ihren Eltern und hat gerade einen Antrag zur Gründung einer Jugend-NGO eingereicht, die erste in Mykolaev. Unter anderem erteilt sie einer kleinen Gruppe von Amerikanern Vertiefungsunterricht in Russisch, wir treffen sie in einem Café neben dem neu erbauten Einkaufszentrum am Prospekt Lenina, dem Riesenboulevard, der durch die halbe Stadt führt.
Dort lerne ich Mandy aus New York kennen, die im Rahmen des Peace Corps der USA Englisch-Unterricht erteilt und mich am nächsten Tag in ihre Lektionen am philologischen Institut der Universität von Mykolaev mitnehmen wird. Englisch studieren vorwiegend Frauen, da die Männer handwerklichen Berufen nachgehen oder eine Ingenieurs-Ausbildung geniessen. So kommt es, dass ich mich in Klassen voller gutaussehener junger Frauen wiederfinde, denen ich etwas über meine Reisen oder mein Leben in Westeuropa erzählen soll. Nicht wenige von ihnen sind schon im Ausland gewesen, sogar in Amerika, was aufgrund der restriktiven Ausreisebedingungen der Ukraine ein nicht zu unterschätzender Aufwand ist. In ihrem zögerlichen, mit wunderschönen ukrainischen Untertöten garniertem Englisch, teils in breitem New-Jersey-Akzent erzählen sie mir von ihren Erlebnissen von anderswo und von den Mängeln ihres Landes und ihren Wünschen für die Zukunft.
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Ihr Senf, bitte. Am besten verdaulich und nicht zu dick aufgetragen.