Nov 15, 2008

Fast Frankfurt VI

Reiseaufzeichnungen, Woche 3
Nachmittags kommen wir an die polnisch-ukrainische Grenze. Die Grenzer sind strenge Männer mit Tarnanzügen und Hunden. Ein älterer Mann hat wohl keinen gültigen Reisepass dabei, wir sehen von den Fenstern im Gang aus, wie er den Zug verlässt, die Grenzer tragen ihm seine Sachen hinterher. Bei ihrem Auto gibt es noch eine längere Diskussion und Telefongespräche, dann steigen sie ein und auch wir setzen uns wieder in Bewegung, fahren in eine grosse Halle, in der der Zug Waggon für Waggon umgehoben wird. In Russland und den GUS-Staaten Ukraine und Weissrussland sowie im Baltikum fahren die Züge auf einer breiteren Spur als in Westeuropa. Die Intention des Zarentums, auf diese Weise eine wirkungsvolle Verteidigungsmassnahme zu erhalten, würde sich später als Hindernis im Warenverkehr herausstellen. Die neuen Umhebe-Systeme erledigen den Vorgang in wenigen Stunden, früher dauerte es halbe Tage. Wir müssen im Zug bleiben und beobachten von den Türen der getrennten Waggons aus die Arbeit, füttern einen Hund, versuchen, auf die grimmigen Gesichter der Bahnarbeiter ein Lächeln zu zaubern. Mit den breiteren Radachsen verläuft die Fahrt ruhiger, angenehmer. Bis Kiev sind es noch sieben Stunden. An einem Bahnhof halten wir länger und alte Frauen mit Einkaufstüten voller Teigtaschen, Khefir, Bier, frischen Fischen und Zigaretten drängen sich durch die Gänge der Waggons. Die Landschaft zieht vorüber, der Zug ist wie eine Zeitkapsel, ein Gefängnis zwischen Abfahren und Ankommen, aber auch eine Denkpause zwischen Studium, Arbeit, Leben in Deutschland. Was kommen wird, was kommen mag, in Kiev, Berlin, und wieder zurück in Mannheim. Ich bin zum Glück eingesperrt in der Unfähigkeit, noch etwas ändern zu können, die nächsten Schritte sind arrangiert, das Finanzpolster ist da, und das Beste gibt es ohnehin kostenlos. So lerne ich noch mehr von den Mitgliedern der Politikfabrik, deren Organisationsteam von fünf Personen sich in Kiev in eine Wohnung einmietet. Die vier anderen Teams – eins für jede Himmelsrichtung – müssen vorbereitete Aufgaben erfüllen in den verschiedensten Orten des Landes, Donetsk, Liev, Odessa, Simferopol. Die Tagesberichte werden mit Bildern und Videos garniert und direkt von ihren Smartphones auf die Blog-Seiten im Internet geladen, das Internetpublikum stimmt ab, wer wohin muss, und was es zu erledigen gibt. Diese einzigartige Art der Aufklärung bringt mich zu der Frage, welche Aufgaben ich denn habe, und wo ich hinwill. Erstmal in Kiev bleiben, erstmal ankommen, landen, einschlafen. Und so schlage ich um halb zwölf nachts, als wir in den Sackbahnhof einrollen, nicht die Einladung für den nächsten Tag aus, setze mich dann aber ins Taxi und nehme ein Zimmer in einem einfachen Hotel nahe dem Hauptboulevard Kreshatyk.

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