Reiseaufzeichnungen, Woche 3
Eine regennasse Nacht empfängt mich in Kiev. Der Rucksack ist ungewohnt nach einem ganzen Tag im Zug. In der Eingangshalle des Bahnhofs erwarten sie mich, die Fahrgast-Fänger der Taxileute. Ich entscheide mich für eine ernst aussehende Frau, die ein wenig Englisch kann. Ihr Preis ist ambitioniert, es ist der Touristenpreis, den man beim ersten Besuch immer zu hören bekommt. Ich hatte mir die Ukraine als ein billiges Land vorgestellt, und tatsächlich waren einige Dinge billig, aber gerade in den letzten zwei Jahren hatte es eine enorme Teuerung gegeben, und durch die flexible Preishandhabung bekommt man das als Fremder besonders zu spüren. Und fremd fühlte ich mich hier – in den harten Sitzen eines Ladas, dessen Fensterscheiben schlierenartige Kaleidoskope waren, die Lichter des Verkehrs, der Geschäfte, der Ampeln und die dunklen Schemen der Passanten wurden zerstückelt und zu einer unwirtlichen Welt neu zusammengesetzt. Ich hatte erwartet, von dem Geld, das ich der Taxifrau gab, auch das Hotel bezahlen zu können, damit lag ich weit daneben. Die Frau an der Rezeption sprach etwas Deutsch und gab mir ein Doppelzimmer, für eine Nacht, zu einem Preis, den man eher in London oder Paris erwartet hätte. Vorhin, an einem der zahlreichen Stände im Bahnhofsgebäude, hatte ich etwas Essbares und zwei Flaschen Bier gekauft, die ukrainische Sorte. Mit diesem letzten Mahl kauerte ich mich nun in die vollen Decken im riesigen Bett des Hotels, der Raum war zugig, hatte aber enorm hohe Decken, eine Spielart der Sowjet-Architektur, die ich hier noch öfters zu Gesicht bekommen sollte. Und in diesem sich endlos nach oben erstreckenden Raum, beleuchtet nur von einer Nachtischlampe mit altmodischem Stoffschirm, begleitet von den Geräuschen des Nachtverkehrs auf der Kreshatyk, durch den ab und zu die dumpf knarrenden Warnsignale der Polizeiautos schnitten, in diesem eigenartigen Territorium glitt ich langsam hinüber in den Schlaf, in einen tiefen, traumreichen Schlaf, der fast bis zum nächsten Mittag andauern sollte. Die Fremde hatte mich wieder und behielt mich bei sich, drehte mich im Bett um eine Zeitzone weiter, zerrte die dem Körper hinterherreisende Seele durch die Landschaften der Kornkammer, durch Wälder und Steppe, Steppe und Wälder und durch kleine Dörfer mit nichtssagenden Bahnhöfen und kyrillischen Anzeigetafeln. All das eine weite, unbekannte Fremde, die nicht zu entziffern war, die in ihrer Geschäftigkeit vor der Ruhe eines Reisenden keinen Respekt hat. Und durch dieses Niemandsland schliesslich hinein in den Strudel von Kiev, in den Strudel der Menschenmengen und Staus. Mit diesem letzten, überwältigenden Drall der Gedanken schlief ich ein und träumte von überindustrialisierten Städten mit Flüssen, die sich in eine tiefe Kluft gefressen haben, und mit entfremdeten Tieren.
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Ihr Senf, bitte. Am besten verdaulich und nicht zu dick aufgetragen.