Dec 29, 2008

Nachspiel: 22. April 2006

Bei der grossen Rückspielrunde, die traditionell Ende Jahr stattfindet, hebt sich einer der Funde der letzten zwölf Monate angenehm vom Rest ab: Es ist die Mix-CD von Techno-Grossmeister Guido Schneider, der in gewisser Hinsicht so etwas wie eine Rarität geworden ist. Seine Kreationen geistern noch durch die Klubakustik der Städte und durch unsere Erinnerung, aber auf dem silbernen Schallplattenmarkt haben wir wenig von ihm gesehen bis anhin. Er, der die Werke anderer Künstler auf eine Weise verfeinert hat wie wenige sonst, gibt auf «Focus On» ausschliesslich Lieder aus eigener Mache zum Besten. Diese CD nimmt uns mit auf eine sehr minimalistische Tech-House-Reise, aus deren Tiefe hypnotische Momente auftauchen wie Haare in einer Suppe. Oldies are Goldies; besonders erwähnenswert Brtschitsch&Galluzzis «Regenschauer», von Guido Schneider aufgepeppt, und natürlich Schneiders eigener Klassiker «Super Sander». Im grossen Rest finden sich auch frisch veröffentlichte Werke, und so ist insbesondere der Start ein elegantes Gleiten hinein in Schneiders unverkennbar dichten Minimal-House-Stil, wie er damals, 2006, bei kaum einem anderen Künstler zu finden war.
«Styleways» (Sammy Dee & Guido Schneider, Last.fm)
Guido Schneider - Focus On, Poker Flat.

Dec 27, 2008

Wir nannten es Arbeit XI

Die Vorweihnachtszeit ist als Praktikant die anstrengendste Zeit des Jahres. Ich treffe alle neuen Bekannten auf einen oder zwei letzte Vorweihnachtsdrinks oder ein leckeres Abendessen, es wird erzählt, wie man Weihnachten verbringt, ob man sich darauf freut, man schmiedet Pläne für Silvester. Gleichzeitig gibt es einige letzte Sitzungen im Betrieb zum Thema Sicherheit oder Effizienz, in denen ich immer drohe einzunicken wegen der ein oder zwei Vorweihnachtsabschiede am Vorabend. Auch die Arbeitskollegen wollen natürlich alles wissen über die Feiertage, wie ich sie verbringe, wo, was ich an Silvester mache, wann ich aus den Ferien wiederkomme. Ich habe alle meine Freitage auf das Jahresende gelegt, zwei Tage vor dem 24. freigenommen und frei bis einschliesslich den 11. Januar. Wir sitzen also in unserer Innovationsecke, die zwei Kollegen aus dem Labor nebenan sinnieren über die Vorteile des Citroen C5, der Autokauf ist gerade das grosse Thema, nachdem die Regierung Steuererleichterungen gewährt und die Pendlerpauschale wieder ab dem ersten Streckenkilometer gilt. Wir holen uns noch einen Milchkaffee an der WMF-Maschine, wir setzen uns hin, obwohl ich längst wieder im Labor sein wollte, meine Destillation überwachen. Ich werde gefragt, wie, wann, wielange Weihnachten, wie, wann, wielange Silvester. In der Woche vor Weihnachten gibt es das Weihnachtsfrühstück, das Kolleginnen aus unserer Gruppe organisieren, mit denen wir auch sonst immer frühstücken um halb zehn. Dafür geht fast ein ganzer Vormittag drauf, es ist eine gesellige, eine grosse Runde mit den Akademikern und dem Gruppenleiter. Von den Resten können wir noch fast die ganze Woche frühstücken in unserer kleinen Gruppe. Ausgiebiger als sonst, auch länger. Bei all den Arbeitsausfällen muss ich mich richtig ranhalten, um das Projekt wie geplant rechtzeitig vor den Ferien abzuschliessen. Ich arbeite von 7 bis 6 Uhr abends, mit vielen Unterbrüchen zwar, aber ich arbeite. Ich destilliere mich verrückt an dem gelben Öl, das mal mein Produktmuster sein soll. Ich quetsche jeden Tropfen Reinheit aus der Sauce raus. Ich stöhne vor der Glasapparatur, in der meine kostbare Pampe langsam eine Dunkelfärbung annimmt, aus einem Stich ins Braune wird schnell Schwarz. Und tatsächlich: Am letzten Donnerstag tropft gegen 17:45 das letzte der 100 Gramm aus dem Kondensator, ein Milligramm davon wird kurz analysiert, vermessen, dann noch zwanzig weitere Milligramm eingetütet und zur Abteilung GKA geschickt, wo die Artillerie der betriebseigenen Analytik den Stoff auf Herz und Nieren prüft und schaut, ob er meinen und den Anforderungen des Kundens entspricht. Es ist 6 Uhr abends und draussen schon längst dunkel, als ich die Apparaturen ausschalte, die den Rest meiner Pampe wie im Krankenhaus am Leben erhielten. Der sogenannte «Sumpf» der Destillation ist jetzt eine braune, zähflüssige Crème, wie Karamell, vermutlich ist ein Teil meines Produkts unter den hohen Temperaturen polymerisiert, zusammen mit dem hochsiedenden Lutrol, das als Sumpfverdünner diente, liegt jetzt eigentlich reines Plastik vor. Die Sauerei mache ich morgen sauber. Ich bin der Letzte im Labor – mache das Licht aus, gehe mich umziehen. Morgen dann nur noch das Weihnachtsmenu zum Mittagessen und Ferien.

Dec 21, 2008

Fast Frankfurt XI

Eine beklemmend historische, religiöse Analogie zum GAU von Tschernobyl, die auch von «kid of speed» kultiviert wurde, ist jene des Wermutstrauches aus dem Buch der Offenbarung. Es ist ein biblisches Monument, eine Interpretation, die in ihrer vermeintlichen Treffgenauigkeit von den das Apokalyptische liebenden Russen natürlich sofort annektiert wurde. In der Bibel steht:

«Und der dritte Engel blies seine Posaune; da fiel ein grosser Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Ströme und Quellen. Und der Name des Sterns ist Wermut. Und der dritte Teil des Wassers wurde bitter, und viele Menschen starben von dem Wasser, weil es so bitter geworden war.»
(Offenbarung 8:10, 11)

Ob das aus dem russischen Kyrillisch transkribierte «Tschernobylik» nur die Pflanze Beifuss beschreibt, oder auch die Pflanzenart Wermut mit einschliesst, die zur selben Gattung gehört, darüber lässt sich streiten. Zumindest wächst Wermut in der Gegend um Tschernobyl (Transkription aus dem Ukrainischen eigentlich «Tschornobyl»). Und die Bitternis der Katastrophe lässt sich auf jeden Fall vortrefflich mit dem Geschmack der Pflanze vergleichen. Und natürlich ist die Reaktorexplosion, die promethische Fackel, die als Symbol in der realen Umgebung der Anlage mehrfach auftaucht, ein gutes Sinnbild für den brennenden Stern, der vom Himmel auf die Erde fiel. Die Opfer sind da, in der späteren Ukraine, Weissrussland, dem Baltikum, Westeuropa. Das verseuchte Grundwasser im südlichen Drittel des Landes ist da. Es ist alles da, was in irgendeiner Weise auf die Offenbarung zutrifft, und natürlich sind die Gläubigen da, die Schwarzseher und Schwarzmaler. Es passt zum Poetischen dieser Katastrophe, deren Ausmass so gigantisch ist und so ungekannt, dass es eigentlich nur auf poetische Weise erschlossen werden kann, denn prosaische, faktische Mechanismen funktionieren hier nicht mehr.
Prometheus, wie er keine 200 Meter vom zerstörten Reaktorblock IV entfernt steht. Ursprünglich als Mahnmal für die friedliche Nutzung der Atomenergie aufgestellt, während die Anlage noch im Betrieb war.

Dec 20, 2008

In der Mitte? Ach, in der Mitte ist nichts.

-Sie wollen also etwas über den Woolagaroo-Mythos erfahren.
-Ist er allgemein bekannt?
-Er kommt in den Geschichtenzyklen etlicher australischer Urvölker in verschiedenen Formen vor. Die wesentlichen Elemente sind bei den meisten gleich:

Ein Mann fasst den Vorsatz, einen künstlichen Menschen zu schaffen und ihm Leben zu verleihen. Er baut ihn aus Holz und setzt ihm Steine als Augen ein. Aber seine Versuche, ihm durch Magie Leben einzuhauchen, schlagen fehl. Schliesslich ist er der Sache überdrüssig und geht weg, aber da hört er, dass er verfolgt wird. Es ist natürlich der Woolagaroo, der erzteuflische Teufel, der auf ihn Jagd macht. Entsetzt versteckt er sich, und der Woolagaroo geht schnurstracks weiter, über Steine und durch Dornen und selbst auf dem Grund der Flüsse, bis er verschwindet.

Einige Volkskundler glauben nicht, dass es ein Mythos aus der Traumzeit ist. Ihrer Meinung nach ist er eine Allegorie des ersten Kontakts mit den Europäern und ihrer Technik. Sie sagen, der Mythos will den Eingeborenen klar machen, dass Maschinen irgendwann ihre Schöpfer zerstören.

/Otherland 2, 6 (130)

Fast Frankfurt X

Als ich auf dem Weg in die Ukraine Mitte September im ICE nach Frankfurt hineinrollte, als ich die Hochhäuser und die spiegelnden Fassaden der Bankentürme sah, die mächtigen Hallen des Hauptbahnhofs im neoklassizistischen Stil, auf denen die Figuren von Atlas, Dampf und Elektrizität spielen, da war mein Bild von einer Stadt vervollständigt. An dieses Bild musste ich denken, als ich im Transporter an den Kontrollposten vorbei in die Stadt Tschernobyl fuhr, die so etwas wie die Antithese zu diesem Bild darstellt. Die Häuser marode und grösstenteils ungenutzt, verlottert und von der sie umgebenden Natur nach und nach erobert. Die Strassen breite Flächen von Altasphalt, ohne Markierungen und an den Rändern befallen vom Graswuchs. Wasserleitungen verlaufen oberirdisch wie die Arterien der Zivilisation, sie schlagen Tore über die Strassen, wechseln spielerisch die Richtung, finden zusammen und verschwinden in den Hüllen der Gebäude. Ausserhalb der Stadt ist die Strasse oftmals in die Erde eingesunken, es scheint, als ob sie langsam untergeht und verschluckt wird. Es ist, wie wir erfahren, wegen den Aufschüttungen so, weil in grossen Teilen der Zone die oberen Bodenschichten abgetragen wurden und Dörfer oder Anlagen nach der Einebnung unter einem Meter Erde von anderswo begraben wurden. Vorbei an diesen Hügelgräbern, auf denen verwitterte Radioaktivitätswarnschilder stehen, fahren wir durch die sich bis zum Horizont erstreckende Einöde, es regnet natürlich immer noch, die Scheibenwischer erzeugen kurze Fenster, die auf die vor uns liegende Strecke gehen. Inmitten der Leere stehen Ruinen wie Pilze, die einsam wachsen. Eine gigantische Umspannstation. Eine Wasseraufbereitungsanlage, die komplett mit Zement verschalt wurde, die Schutzschicht wirkt wie ein eckiges Kleidchen. Das riesige Wasserreservoir, das sich der Strasse entlang in breiten Kanälen erstreckt, ist wie eine künstliche Auenlandschaft. Die Kanäle sind ein Aquarium mit amputierter Nahrungskette, die Flusswelse darin stehen auf ihr ganz oben und wachsen bis auf zwei Meter Länge heran. In der Ferne sehen wir die Silhouetten der Kühltürme und der unfertigen Reaktorbauten. Sie sind nur bis zur Hälfte fertiggestellt. An den oberen Rändern ragen die Stahlträger und Baukräne wie Stofffransen in den Himmel. Wir sehen von weitem auch schon den eigentlichen Reaktor, wegen dem wir alle hier sind, wegen dem alle kommen, Wissenschaftler, Mystiker, Künstler, Touristen; allesamt Nihilisten. Und alle hinterlassen etwas, hinterlassen Geschichten, Mythen, Bilder, um die Zone um ihren eigenen, persönlichen, manchmal manischen Surrealismus zu bereichern. Wir erinnern uns an die Internet-Sage von «kid of speed», einer Frau, die im Internet Fotos aus der Zone veröffentlichte und vorgab, mit ihrem Motorrad und dem Passierschein ihres Vaters alleine durch die Zone zu brettern. Es war natürlich gelogen, sie war lediglich als Teil einer Besuchergruppe dort gewesen und hatte die Aufnahmen abseits des Busses gemacht und mit einigen interessanten Fakten von Wikipedia angereichert.



Dec 13, 2008

Nachbilder: The man who wasn't there, 2001

«They got this guy, in Germany. Fritz Something-or-other. Or is it? Maybe it's Werner. Anyway, he's got this theory, you wanna test something, you know, scientifically - how the planets go around the sun, what sunspots are made of, why the water comes out of the tap - well, you gotta look at it. But sometimes you look at it, your looking changes it. You can't know the reality of what happened, or what would've happened if you hadn't stuck in your own goddamn schnozz. So there is no "what happened". Looking at something changes it. They call it the "Uncertainty Principle". Sure, it sounds screwy, but even Einstein says the guy's on to something. [...] I’m saying, sometimes the more you look, the less you really know. It’s a fact – a proofed fact, in a way – it’s the only fact there is. This Heini, he even wrote it out in numbers.»

the happening world

Noch stosse ich mir in der Küche den Kopf an der Abzugshaube. Noch stören im Flur die am Boden liegenden Beine des kaputten Tischs, der nicht weggetragen wird. Noch sind die Nächte unvollendete Ruhezonen am neuen Ort, bilden Traumblasen und lassen diese wegwehen in den stillen Innenhof, wo sie aufsteigen und an der Dachlinie vorbei in den grau-melierten, trüb-wolkigen Industriehimmel eingehen. Noch hat der Output keine Buchse gefunden, noch zuckt der Datenstrom frei, noch ist Ankunft fern, noch kein Ortsschild in Sicht.

Gestern das erste Mal in Pfälzisch geträumt.

Dec 8, 2008

Fast Frankfurt IX

In der Botschaft findet ein Treffen statt zwischen der Politikfabrik-Gruppe und Vertretern von Politik und Medien der Ukraine, sowie zwei Studentinnen der Universität. Danach gibt es Buffett, mein Abendessen, auf das ich an diesem Tag sehr lange gewartet habe. Im Gespräch mit einem Abteilungsleiter eines ukrainischen Fernsehsenders, mit der Leiterin einer ukrainischen NGO, im Blickkontakt mit den Politikfabrik-Leuten, die mir in dieser kurzen Zeit schon so vertraut geworden sind, auf diese Weise bin ich für einige Stunden aus Kiev ausgeschlossen, der Regen und die Fremde sind mir nicht bis in die Botschaft gefolgt. Sie warten draussen, in den Strassen, und werden mich später wieder in Empfang nehmen. Aber als sich einer der Organisatoren der Politikfabrik an den Flügel im Atrium der Botschaft setzt und losklimpert, als das ukrainische Bier zu wirken beginnt, als Gruppenfotos gemacht werden und der Anlass langsam zu seinem Ende kommt, da habe ich die Stadt, das Vorhaben, die Einsamkeit des Reisen vergessen und werde von der Gruppe mit in ihr zentral gelegenes Apartment genommen.
Später, nach einigem Vodka, guten Erzählungen und einem eigenartigen Heimatgefühl stehen wir auf der Strasse, «Team Nord» und ich. Es stellt sich raus, dass wir doch nicht im selben Hostel übernachten, also mache ich mich auf, in die Dunkelheit, doch schon vor dem Hyatt lenke ich ein, lasse ab von der Fremde und steige in die teure Vertrautheit eines Taxis, das mich zum Hostel bringt. Der Regen ist wieder da, er plätschert vor dem Zimmerfenster auf die Wellblechdächer im Innenhof, er bringt Schlaf mit sich und Träume, die ebenso tropfenhaft durch die Nacht fallen, ihren Weg verlassen und in das Labyrinth der Stadt sinken, durch das ich mich kämpfen werde die nächsten Tage. Keine Karte von Kiev sieht aus wie die andere, mit ihnen ist es wie mit den Uhren auf den Strassen und in den Geschäften, die stets eine unterschiedliche Zeit anzeigen. Raum und Zeit, die beiden Realitätsachsen verbiegen sich hier. Die Tage, in denen ich die Stadt kennenlerne, Leute treffe, Telefongespräche führe, Museen besichtige und Metro fahre, sie ziehen sich in die Länge, überschneiden und wiederholen sich. Die Orte ähneln einander, die Gebäude wechseln die Strassenseite, Norden ist mehrmals woanders, nur der Dnjepr ist stets derselbe, breit und ruhig fliesst er am Rande der Stadt, gesäumt von Stränden und Vergnügungsbuden, die alle bereits ihren langen Winterschlaf angetreten haben.
Die letzte Nacht, die ich in Kiev verbringe, ist klar und regenlos. Ich quartiere mich kurzerhand bei der Couchsurferin aus und in einem zentral gelegeneren Hostel wieder ein. Ich gehe erneut in das Apartment der Politikfabrik, wir gehen in einen der vermutlich teuersten und groteskesten Clubs der Stadt, direkt neben der japanischen Botschaft. Hier gibt es sie noch, die Westler im Anzug mit Zigarre, die Vodka aus der Flasche trinken, die ukrainischen Schönheiten mit ihren tartarischen Gesichtszügen, hohen Wangenknochen und filigranen Schulterblättern. Um den Maydan, den Platz der Unabhängigkeit, sieht man mehr Porsche Cayennes als in Stuttgarts Innenstadt. Auf dem Weg zurück finden wir eine Patronenhülse auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Regierungsgebäude.
Der Schlaf in dieser Nacht lässt auf sich warten. Ich liege halbnackt neben dem offenen Fenster. In den zwei Stunden, bis der Bus nach Tschernobyl fährt, gesellt sich irgendwann ein Laken hinzu, eine Bettdecke, ein Kissen.

Dec 4, 2008

Wir nannten es Arbeit X

Die Anlagen des Betriebs liegen mit ihren riesigen Speichertanks, Schornsteinen und Rohrgewirren ruhig da, ihre Aussenhaut glitzert in der Wintersonne. In ihrer Untätigkeit scheinen sie wie grosse, schlafende Metalltiere.
Im Labor herrscht eine angenehme, trägmachende Wärme. In den halbverspiegelten Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes erstreckt sich das zerstückelte Panorama des Himmels, wie er hinter uns liegt. Gelegentlich öffnen und schliessen sich Glastüren im Gebäude, heliographieren dabei die Sonne.
Nach dem Mittagessen ziehe ich mich um und gehe ins Sitzungszimmer im Erdgeschoss, wo ich zu einer Informationsveranstaltung eingeladen bin. Mit mir nur fünf andere Praktikanten. Es gibt Kaffee und Weihnachtsgebäck, die Organisatoren von HR respektive Hochschulrecruiting lassen sich nicht lumpen. Die Vorträge sind eher allgemein gehalten, dümpeln ein wenig an der Oberfläche der Materie, behandeln die Energieeffizienz, wie könnte es anders sein, Ökologie-Thematik, einfache Klassifizierung des Themas, der Forschungsbereiche, Herstellungsgrundlagen. Wir lernen die Unterschiede kennen von Bier in Glasflaschen, Dosen, PET-Flaschen. Wir fragen bis an die Grenze des Erzählbaren, bis dorthin, wo die Geheimhaltungsklauseln greifen und wo Stoffe, Katalysatoren und Verfahren nurmehr mit Nummern und Codes bezeichnet sind, damit nicht auf deren Natur geschlossen werden kann.
Es ist später Nachmittag, als wir zur Werksbesichtigung aufbrechen, es dunkelt und schwere Wolken ziehen auf. Im Styropor-Plant II machen wir einen Rundgang mit einem älteren Ingenieur, das ganze, riesige Gebäude wird allein von vier Leuten kontrolliert, die zwischen den Kontrollräumen umherwandern, gelegentlich nachfüllen, Proben ziehen, aufräumen. So werden 150.000 Tonnen pro Jahr produziert, nebenan in Plant I nochmal soviel. Nach einem Gang durch den Reaktorensaal fahren wir ganz nach oben. Es hat zu regnen begonnen und ein heftiger Wind bläst uns entgegen, als wir aus dem Fahrstuhl direkt auf das offene Dach stolpern. In den Mulden der Abdeckung hat sich Wasser gesammelt und gekauert staksen wir zum Geländer am Rand. Vor uns erstreckt sich die Metallwüste mit ihren vielen Lichtern, zum ersten Mal fühle ich mich richtiggehend als ein Teil von ihr. Unter uns liegen die grossen Styrol-Tanks, von wo aus die neue Polystyrol-Anlage und die beiden Styropor-Plants gespeist werden. Neben uns glüht die Fackel, die das abgesaugte Pentan verbrennt. Styrol wird unter unseren Füssen in 7 Reaktoren polymerisiert, wodurch sich Kügelchen bilden, deren Wachstum irgendwann durch Beimischung von Pentan abgebrochen wird. Die «beads» erhalten dann eine Formulierung wie ein Medikament, sie werden beschichtet und nach Grösse ausgesiebt, bei diesem Prozess entsteht viel Staub, wie wir später sehen, ein Geschoss tiefer, wo die Rüttler stehen, wo die sich zersetzenden Peroxide einen starken, süsslichen Geruch hinterlassen und wo an den Wänden, auf den Maschinen, auf den Neonröhren fingerdick der weisse Staub des Beschichtungs-Stereats liegt wie Schnee. Wasserdicht in ein-Tonnen-Gebinden verpackt finden die «beads» ihren Weg nach Übersee oder England, wo sie geschmolzen und aufgeschäumt werden und als Styropor weiterleben.

Dec 3, 2008

the happening world

Als ich mich im Fitnessstudio registrieren liess, führte mich der leitende Mitarbeiter herum und zeigte mir alles. Er war einer von den Marketingfritzen, die einen ununterbrochenen Redeschwall hervorbringen und schon nach 10 Minuten war ich so erschöpft, dass ich jeden Vertrag sofort unterschrieben hätte. Die Betreiberfirma wurde gerade einem Redesign unterzogen und bekam, neben einem neuen Namen, auch neues Interieur verpasst. Er fragte mich nach meinen Sportgewohnheiten. Ich nannte Rennradfahren. Da wurde er hellhörig. Seine Augen begannen zu leuchten. Ich solle mitkommen, er habe da eine Überraschung für mich, und er führte mich zurück, vorbei an den unzähligen Maschinen, die die Menschen bewegten, zu den Squash-Courts. Einer davon war geschlossen und offensichtlich wurde dort gerade etwas anderes installiert. «Magst du Spinning?» Ich ahne das Schlimmste. Spinning ist in etwa so wie Laufband-Joggen in der Gruppe, ich habe es ein paar Mal gesehen und für unsinnig empfunden, als Freiland-Rennradfahrer will ich Natur sehen beim Sport und die Ruhe der einsamen Passstrassen spüren, und nicht mit Musik und den Aufforderungen des Leiters zugedröhnt werden. «Wir installieren jetzt hier eine neue Form davon, Dark-Spinning, wo du in einem ganz dunklen Raum fährst, mit Schwarzlicht, Diskokugeln, Lichteffekten und natürlich geiler Musik.» Und wie als Begründung, als Legitimation, fügte er stolz hinzu: «Der neue Trend. Kommt aus Amerika.» Ich war ziemlich baff. Das also war es, was sich all diese verbissenen Radler auf den einsamen Passstrassen insgeheim wünschten, die dort mit Kopfhörern, ohne anzuhalten und ohne zu grüssen hochtrabten. Ein dunkler Raum, wo sie ohne Selbstdisziplin, also in der Gruppe, aber eben doch für sich fahren können, nichts sehen müssen, nichts denken müssen, sich nicht bewegen müssen. Es sind diese Radler, die ganz penibel auf ihr Outfit und ihre Ausrüstung achten, die ihr Handtuch (zur Reservation des Standrades) ordentlich gefaltet über den Lenker hängen, die mehr mit sich beschäftigt sind und die ihre Andersartigkeit nicht erkennen können, eben weil ihnen das Kontrastdenken fehlt. Im Grunde, denke ich, sind es hochzufriedene Leute.

Dec 2, 2008

Fast Frankfurt VIII

«Ein einfaches Gedicht, einfache Reime. Jakub Kolas hatte es 1906 geschrieben, einer der weissrussischen Dichter, deren Statuen in den Minsker Stadtparks standen.

Unser armes Vaterland,
lauter Wälder, Sumpf und Sand.
Dort ist eine kleine Lichtung,
dichter Fichtenwald am Rand.


Kolas hatte das Land in seinem vorrevolutionären Halbschlaf gemeint, aber was hiess das schon, es war immer noch so.»
-Büscher

Kiev weckte mich mit dem blassen Schimmer des Dunstes, der durch die hohen Fenster schien, es war halb zwölf, ich war schweissgebadet, drehte mich auf die andere Seite in diesem Bett, das so fremd schien um diese Uhrzeit, mir aber für die letzten zwölf Stunden wie die letzte Ruhestätte vorgekommen war. Auf dem Gang blickten mich russisch aussehende Mädchen verdutzt an. Das Wasser der Dusche war kalt, sehr kalt, ich wollte nicht warten bis wärmeres kam. Mit einem Rucksack wie meinem kommt man nirgends ungesehen vorbei, ich fürchtete die Rezeptionsfrau und dass ich Aufschlag zahlen müsste, weil ich vermutlich die Check-Out-Zeit verschlafen hatte. Ein solches System war hier aber noch nicht etabliert, ich gelang ungeschoren auf die Strasse, wandte mich nach rechts und stand auf der Kreshatyk. Links von mir lehnte sich ein marmorbrauner Lenin gegen den Wind des Verkehrs, gegen eine gigantische Markthalle – und gegen den Regen. Der Regen hatte nicht aufgehört, er war stärker geworden, und er sollte die nächsten Tage andauern. Ich hatte beschlossen, noch eine Nacht in der Innenstadt zu bleiben und erst dann die Schlafgelegenheit bei Andrii in Anspruch zu nehmen, einem Couchsurfer, der einige Metrohaltestellen entfernt wohnte. Das Hostel, das ich aufsuchte, war eines der drei oder vier, die es in ganz Kiev gab. In einer alten sowjetischen Wohnung eingerichtet ähnelte die «Jugendherberge» einer brackigen WG, deren Zimmer zu Massenschlägen umfunktioniert waren. Es regnete. Der Regen tropfte von den Wellblechdächern in die grossen Pfützen des Innenhofs, auf nassen Teer, Schlaglöcher, Autos. Ich spannte etwas Schnur durch das Zimmer, in dem ich ein Bett ergattert hatte und das jetzt verlassen war, hängte meine nassen Kleider auf und fuhr zurück zur Kreshatyk. Der breite Boulevard, im sowjetischen Volksmund vermutlich «Prospekt» genannt, war ein Architekturmuseum im stalinistischen Stil. Grosse, erhabene Gebäude erstreckten sich zu beiden Seiten, allesamt Neubauten. Ich folgte dem Strassenverlauf in der Richtung, wie sie auch von den Panzern der roten Armee eingeschlagen worden war, damals, nach dem Ende des grossen Krieges. Die Deutschen hatten die Hauptstrasse und die angrenzenden Gebäude komplett vermint hinterlassen und wenig war von den alten Bauten übriggeblieben. Die Fremde war da, um mich herum, mit tausenden Gesichtern, sie schwatzte auf mich ein in hundert Sprachen, wollte mich hier und dorthin führen, aber gab mir nichts zu essen. Sie trieb mich an den russischen Kantinen vorbei, in denen in einem romantisch-ländlichen Ambiente russische Schnellküche serviert wurde. Ich ass nichts, kaufte nur in einem Supermarkt eine Flasche Wasser. Dann ging ich in eine der Kaufhallen, die unterirdisch um die Metrostationen herum gewachsen waren. Hier kaufte ich ein Paar spitz zulaufende Kunstlederschuhe mit eingearbeitetem Wildlederimitat, eine Art, wie es in der Ukraine Mode gewesen war, oder noch immer ist. Mit diesen dünn besohlten Schühchen stiefelte ich in Richtung des Regierungsviertels in der Nähe der Universität, wo ich mir an einem Stand zwei Bananen kaufte, die Kapuze abstreifte und zur deutschen Botschaft ging.

Dec 1, 2008

Wir nannten es Arbeit IX

Zwischen den Pausen arbeiteten wir. In Deutschland macht man traditionell um halb zehn Uhr Frückstückspause, ich ass natürlich schon vorher eine kleine Mahlzeit, zuhause. Gegen halb eins geht es dann zum Mittagessen in die benachbarte Kantine, den «Roten Ochsen», wo eine Essensrunde mit den Arbeitskollegen oder mit anderen Praktikanten schonmal eine Stunde dauert – ein Zeitfenster, das ungekannt war zu Uni-Zeiten, wo innert 45 Minuten turbo gegessen und turbo Kaffee getrunken wurde. Die Kaffeepause nach dem Mittagessen lasse ich ohnehin aus, da dieser Koffeinschub nichts hilft, stattdessen versuche ich, vor der richtigen Kaffeepause um drei noch etwas zustande zu bringen. Seit etwa einem Monat nennt unsere Abteilung eine «Innovationsecke» ihr Eigen, eine modern eingerichtete Örtlichkeit im Gebäude nebenan, mit grossformatigen Wissenschaftsbildern auf Panels und Flachbildschirmen, runden Glastischen, Plastikstühlen mit fliessenden Formen sowie einer 1A WMF Kaffeemaschine. Für den Kaffee (oder Latte Macchiato oder Chocolato) bezahlt man nichts, man tut schliesslich seinen Dienst an der Forschung, wenn man sich wie vorgeschrieben mit Kollegen oder Fremden aus anderen Abteilungsbereichen trifft und gemeinsam neue Ideen ausbrütet. Wir gingen natürlich auch so hin, ohne Fremde, zwischen unseren Pausen, und diskutierten über unsere Vorgesetzten, das Abteilungsklima, oder die Weltwirtschaftskrise. Die Weltwirtschaftskrise – die Etymologie dieses mächtigen Wortes ist zumindest uns völlig klar: Während sich die Zeitungen und die Infokanäle des Intranets noch mit «Schieflagen im Finanzsystem» oder «Rezessionsängsten» zufrieden gaben, bliesen die Sparer unserer Firma gleich ganz kräftig ins Horn. Wie es in einer Email hiess, würden auf Grund der «Weltwirtschaftskrise» Betriebsanlässe (auch bereits geplante) gestrichen. Ausserdem gäbe es keine Kekse mehr bei Sitzungen. Dass die Not bei uns schon so gross ist, dass selbst die Kekse in Zukunft wegfallen sollten, zog uns wirklich die Schuhe aus. Bei meinen Fahrten durchs Werksgelände hatte ich schon immer geglaubt, weniger qualmende Fabriken zu sehen und weniger Tankzüge, die zwischen den Fabriken und dem Umschlaghafen pendeln. Nun war es also amtlich. Der Vorstand fliegt nur noch Business-Class, nicht mehr in der First. Alle Investitionsplanungen müssen noch einmal einer Kostenerträglichkeitsanalyse unterzogen werden. Es gibt keine teuren Neugeräte mehr. Es gibt keine Kekse mehr.

Nov 27, 2008

Nachbilder: 27. Juni 2008

Und: In Englisch!

«Time passes. Days evaporate on the hot stove-surface of everyone's life like small drops of rain that fell from the dreamtime-skies towards the bottom, the past.
Things accelerate. The scattered and spilled minutes and seconds re-bounce uncatchable through the room, a fragmented explosion that lasts discriminatively long, depending on perspective.
Life shortens. Every action stops just before ending, remains unfinished, patterns of behaviour evolve only to come to sudden ends, unprepared, leaving traces like a half-grown tree, askew.»
-fdm

Nov 26, 2008

Nachwort: 21. März 2008

«Ämter meide ich ja im Allgemeinen. Alltag und so ist sicherlich okay, also für mich nach diesem Studien-Fleischwolf auf jeden Fall. Ich will jetzt arbeiten und Generation Praktikum und so. Nordrhein Westfahlen. Normal-Leben. Umziehn. Umziehn ist noch ne ganz andere Geschichte. Ist zwar nur eine Grenze dazwischen aber es graust mich schon. Ich denke einfach nicht daran und wenns dann ansteht ist es halb so wild. Wiedermal bei Null anfangen und nur seinen Geist, Laptop, ne Hose zum anziehen, eine Matraze und einen Kasten Bier für die Einweihungsfete mitnehmen. Alle email-Konten auf forward stellen und die Mails im Kreis zirkulieren lassen. Elektronischen Selbstmord begehen.»
-fdm

Nov 21, 2008

the happening world

Mein erster Arzttermin im neuen Land. Die Auslandsdeckung, «Reise- und Ferienversicherung» genannt, gerade noch rechtzeitig (wie ich hoffe) eingereicht und bezahlt. Die Praxis ist am Telefon nicht unfreundlich, schlägt mir Termin um 16.30 vor, «mit Wartezeit». Verdutzt willige ich ein, lege auf. Termin? Oder Warten? Ich gehe extra früher, lasse die Destillation Destillation sein, dusche noch kurz. Frisch und munter und vom langsam eisiger werdenden Wind aufgepeitscht komme ich an. Hinter dem Tresen drei Damen, von denen sich nur eine befähigt sieht, zu bedienen, sie trägt ein schnurloses Sennheiser-Headset. Termin? Ja klar Termin. Dann geht die Papierschlacht los. Ich komme gar nicht erst dazu zu erwähnen, dass ich neu bin und mich mit dem deutschen Arztwesen nicht auskenne. Erstmal sorgt die Versichertenkarte für Aufregung. Ist aber europäisch! Dann die eine Auszubildende: «10 Euro oder Überweisung?» Die Frage nach Geld löst bei mir in der zweiten Monatshälfte ja immer Unwohlsein aus, aber die Aussicht auf einen Einzahlungsschein, den ich erst nach einem Monat in der Jackentasche wiederfinde zu einem Zeitpunkt mit unvorhersehbarer finanzieller Situation, ist schlimmer. Ich gebe ihr die 10 Euro, Bearbeitungsgebühr, was weiss ich. Dann wieder die Frau mit dem Headset. Schiebt mir Formulare rüber, ausfüllen. Habe Reisepass nicht dabei. «Wohnen Sie weit entfernt?» In Anbetracht der Formulare, auf denen sie es ohnehin nachprüfen könnte, mag ich nicht lügen, aber die Vorstellung, zurück zu fahren und noch länger warten zu müssen, lässt mich wortkarg werden. Kann den Pass nachreichen, ist aber wichtig. Dann endlich Wartezimmer. Sie kommt mir nach, noch ein Formular, bei Umzug zukünftige Adresse bitte auf der Rückseite notieren, mit Datum. Na endlich. Der Gedanke an den Umzug lässt immer Hoffnung keimen, sogar hier, im Wartezimmer. Dann kann sie meine Adresse nicht lesen. Dann fängt sie an, nachzuhaken, ist ganz interessiert: «Herkunftsland Tschechien?», ich stutze. «Deutschland», das kommt noch ganz trocken. Aber sie gibt nicht auf, Tschechien hat es ihr angetan: «Und warum haben Sie dann so eine Karte, haben Sie in Tschechien gelebt bisher?», und das mitten im Wartezimmer, alle schauen zu. Ich setze eine ernste Miene auf, nach ihrem wichtigtuerischen Auftritt lasse ich ihr das nicht durchgehen. «Schweiz, ich habe vorher in der Schweiz gelebt.» Sie dachte im Ernst, das «CH» stehe für Tschechien. Die gutmütige, bebrillte Frau wendet sich ab und ist zufrieden. Die Versichertenkarte wird sie mir beim Rausgehen wiedergeben. Dann Warten, zum Glück habe ich selber etwas zu Lesen mit. Schon nach einer halben Stunde bin ich dran, die Auszubildende spricht meinen konsonantenreichen Namen fast perfekt aus, ich nicke ihr ermutigend zu. Hinein in einen abgedunkelten Praxisraum, kubistische Kunst, ein Paar Kindersocken auf dem Schreibtisch. Dann die Ärztin, kein Händeschütteln, die Assistentin setzt sich gleich an den Computer, beginnt zu tippen. Die Ärztin, diktierend, beschreibt mein Problem, klassifiziert, «in der Mitte der Brust, RF 7», hat gleich eine Lösung parat, eine Salbe morgens, eine abends, Rezept gibt’s am Tresen, das war’s.

Nov 20, 2008

Fast Frankfurt VII

Reiseaufzeichnungen, Woche 3
Eine regennasse Nacht empfängt mich in Kiev. Der Rucksack ist ungewohnt nach einem ganzen Tag im Zug. In der Eingangshalle des Bahnhofs erwarten sie mich, die Fahrgast-Fänger der Taxileute. Ich entscheide mich für eine ernst aussehende Frau, die ein wenig Englisch kann. Ihr Preis ist ambitioniert, es ist der Touristenpreis, den man beim ersten Besuch immer zu hören bekommt. Ich hatte mir die Ukraine als ein billiges Land vorgestellt, und tatsächlich waren einige Dinge billig, aber gerade in den letzten zwei Jahren hatte es eine enorme Teuerung gegeben, und durch die flexible Preishandhabung bekommt man das als Fremder besonders zu spüren. Und fremd fühlte ich mich hier – in den harten Sitzen eines Ladas, dessen Fensterscheiben schlierenartige Kaleidoskope waren, die Lichter des Verkehrs, der Geschäfte, der Ampeln und die dunklen Schemen der Passanten wurden zerstückelt und zu einer unwirtlichen Welt neu zusammengesetzt. Ich hatte erwartet, von dem Geld, das ich der Taxifrau gab, auch das Hotel bezahlen zu können, damit lag ich weit daneben. Die Frau an der Rezeption sprach etwas Deutsch und gab mir ein Doppelzimmer, für eine Nacht, zu einem Preis, den man eher in London oder Paris erwartet hätte. Vorhin, an einem der zahlreichen Stände im Bahnhofsgebäude, hatte ich etwas Essbares und zwei Flaschen Bier gekauft, die ukrainische Sorte. Mit diesem letzten Mahl kauerte ich mich nun in die vollen Decken im riesigen Bett des Hotels, der Raum war zugig, hatte aber enorm hohe Decken, eine Spielart der Sowjet-Architektur, die ich hier noch öfters zu Gesicht bekommen sollte. Und in diesem sich endlos nach oben erstreckenden Raum, beleuchtet nur von einer Nachtischlampe mit altmodischem Stoffschirm, begleitet von den Geräuschen des Nachtverkehrs auf der Kreshatyk, durch den ab und zu die dumpf knarrenden Warnsignale der Polizeiautos schnitten, in diesem eigenartigen Territorium glitt ich langsam hinüber in den Schlaf, in einen tiefen, traumreichen Schlaf, der fast bis zum nächsten Mittag andauern sollte. Die Fremde hatte mich wieder und behielt mich bei sich, drehte mich im Bett um eine Zeitzone weiter, zerrte die dem Körper hinterherreisende Seele durch die Landschaften der Kornkammer, durch Wälder und Steppe, Steppe und Wälder und durch kleine Dörfer mit nichtssagenden Bahnhöfen und kyrillischen Anzeigetafeln. All das eine weite, unbekannte Fremde, die nicht zu entziffern war, die in ihrer Geschäftigkeit vor der Ruhe eines Reisenden keinen Respekt hat. Und durch dieses Niemandsland schliesslich hinein in den Strudel von Kiev, in den Strudel der Menschenmengen und Staus. Mit diesem letzten, überwältigenden Drall der Gedanken schlief ich ein und träumte von überindustrialisierten Städten mit Flüssen, die sich in eine tiefe Kluft gefressen haben, und mit entfremdeten Tieren.

Nov 16, 2008

the happening world

Hope and Fear, die beiden grossen Bits, heizen meiner Denkmaschine ein.

Nov 15, 2008

Fast Frankfurt VI

Reiseaufzeichnungen, Woche 3
Nachmittags kommen wir an die polnisch-ukrainische Grenze. Die Grenzer sind strenge Männer mit Tarnanzügen und Hunden. Ein älterer Mann hat wohl keinen gültigen Reisepass dabei, wir sehen von den Fenstern im Gang aus, wie er den Zug verlässt, die Grenzer tragen ihm seine Sachen hinterher. Bei ihrem Auto gibt es noch eine längere Diskussion und Telefongespräche, dann steigen sie ein und auch wir setzen uns wieder in Bewegung, fahren in eine grosse Halle, in der der Zug Waggon für Waggon umgehoben wird. In Russland und den GUS-Staaten Ukraine und Weissrussland sowie im Baltikum fahren die Züge auf einer breiteren Spur als in Westeuropa. Die Intention des Zarentums, auf diese Weise eine wirkungsvolle Verteidigungsmassnahme zu erhalten, würde sich später als Hindernis im Warenverkehr herausstellen. Die neuen Umhebe-Systeme erledigen den Vorgang in wenigen Stunden, früher dauerte es halbe Tage. Wir müssen im Zug bleiben und beobachten von den Türen der getrennten Waggons aus die Arbeit, füttern einen Hund, versuchen, auf die grimmigen Gesichter der Bahnarbeiter ein Lächeln zu zaubern. Mit den breiteren Radachsen verläuft die Fahrt ruhiger, angenehmer. Bis Kiev sind es noch sieben Stunden. An einem Bahnhof halten wir länger und alte Frauen mit Einkaufstüten voller Teigtaschen, Khefir, Bier, frischen Fischen und Zigaretten drängen sich durch die Gänge der Waggons. Die Landschaft zieht vorüber, der Zug ist wie eine Zeitkapsel, ein Gefängnis zwischen Abfahren und Ankommen, aber auch eine Denkpause zwischen Studium, Arbeit, Leben in Deutschland. Was kommen wird, was kommen mag, in Kiev, Berlin, und wieder zurück in Mannheim. Ich bin zum Glück eingesperrt in der Unfähigkeit, noch etwas ändern zu können, die nächsten Schritte sind arrangiert, das Finanzpolster ist da, und das Beste gibt es ohnehin kostenlos. So lerne ich noch mehr von den Mitgliedern der Politikfabrik, deren Organisationsteam von fünf Personen sich in Kiev in eine Wohnung einmietet. Die vier anderen Teams – eins für jede Himmelsrichtung – müssen vorbereitete Aufgaben erfüllen in den verschiedensten Orten des Landes, Donetsk, Liev, Odessa, Simferopol. Die Tagesberichte werden mit Bildern und Videos garniert und direkt von ihren Smartphones auf die Blog-Seiten im Internet geladen, das Internetpublikum stimmt ab, wer wohin muss, und was es zu erledigen gibt. Diese einzigartige Art der Aufklärung bringt mich zu der Frage, welche Aufgaben ich denn habe, und wo ich hinwill. Erstmal in Kiev bleiben, erstmal ankommen, landen, einschlafen. Und so schlage ich um halb zwölf nachts, als wir in den Sackbahnhof einrollen, nicht die Einladung für den nächsten Tag aus, setze mich dann aber ins Taxi und nehme ein Zimmer in einem einfachen Hotel nahe dem Hauptboulevard Kreshatyk.

Nov 12, 2008

Die dritte Dosis

A, B, C.
Wer es schafft, bis P zu buchstabieren, der kann dort aufhören, denn den Rest übernimmt PROSUMER, wir sagen unseren Dank. Er diktiert uns das ABC der Elektronik, lehrt uns zu laufen, sozusagen, auf eine tech-housige Weise, in dieser einstündigen Aufnahme vom letzten Jahr. Alles unter dieser Nummer (Popups zulassen). Die anderen drei Dosen, Assoziationen zu Tschernobyl:
A) Büscher, 2003: «Die Zone. Seine Laune hob sich, er begann Witze zu reissen und lachte mich aus, dass ich hierher wollte. In ein paar Jahren würde der ganze Horror in ein grosses esoterisches Spektakel und "Business" umkippen, und aus dem Westen, dem verrückten, ewig nach neuen Kicks suchenden Westen, würden massenhaft Leute anreisen, um sich dem Kraftfeld des Reaktors auszusetzen.
"Die Potenz! Denk nur an die Potenz, lauter alte Männer werden kommen und am Ufer des Dnjepr sitzen, weisst du, wie früher in den weissen Liegestühlen auf den weissen Terrassen der Lungenheilanstalten." Er liess das Steuer los, riss die Arme hoch und schrie: "Energie! Diese klasse Energie, spürst du sie? Spürst du - ihn? Alle wollen ihn sehen." Er kurbelte das Seitenfenster herunter und zeigte irgendwohin. "Reaktor! Reaktor! Guter Gott, ich habe den Reaktor gesehen!"»

B) Kracht, 2005: «Wer Tschernobyl betritt, betritt die Bibel. Die Fackel, welche als metallenes Symbol die Besucher der Arbeiterstadt vor den Toren des Reaktors begrüsst, ist der Schweif des grossen Sterns aus der Offenbarung des Johannes, der vom Himmel fiel. Der Unfall geschah, wie ein Unfall geschehen muss in der Moderne: als fehlgeschlagener Test für den Ernstfall. Man wollte wissen, was passiert, wenn die entscheidenden Kühlsicherungen ausfallen, und hatte vergessen, das zu testende Rettungssystem zu aktivieren. Der anzutretende Beweis führte zum grössten anzunehmenden Unfall, zur Katastrophe, Armageddon, Jehennum. Unter den wachsamen Augen der Prüfer versagte das von ihnen entwickelte System, weil es ausgerechnet zu der Überhitzung kam, die man vermeiden wollte. Das Höllenfeuer setzte immense Massen Radioaktivität frei, die von den stark wehenden Aprilwinden in drei verschiedene Richtungen getragen wurde. Zunächst nach Westen, in die Ukraine, dann nordostwärts weit bis nach Weissrussland hinein, und nach Russland. Nicht nach Süden, wo die Hauptstadt Kiew liegt. Die unsichtbaren Todeswolken wehten unerkannt, weil niemand wusste, was geschehen war. Der Reaktor 4 musste mit einem Stahlmantel, dem Sarkophagus, umbaut werden und ist heute als Mini-Modell im Demonstrationsbüro gleich neben dem echten Reaktor zu sehen, durch die verkohlten Reste im Innern kriechen winzige schockgefrorene Rettungsarbeiter aus Plastik.»

C) myself, 2008: «Dann sehen wir den stählernen Sarg, der das zerstörte Reaktorgebäude von Block 4 abschirmt. Darin, wie ein Embryo im Mutterleib, glühen 180 Tonnen radioaktiver Überreste der atomaren Katastrophe vor sich hin. Draussen spüren wir nichts. Ukrainischer Herbstregen wäscht die Luft, hält sie frei von strahlenden Schwebeteilchen, die wir einatmen könnten. Erst im Innern des Körpers würde der Staub von Tschernobyl echten Schaden anrichten – nach Innen aber gelangt die Katastrophe nicht, sie muss auf ewig abgeschlossen in ihrer Zone bleiben, das Ausmass, der Charakter, er kann nie verstanden, verinnerlicht werden.»

Nov 11, 2008

the happening world

Mannheim:

Polizist: Sie fahren in die falsche Richtung in einer Einbahnstrasse!
Ich: Aber irgendwie muss ich doch da rüberkommen!!

Auf dem Weg zur Fitcom stellen sich mir die unterschiedlichsten Probleme in den Weg. Routenplanung geht in der Innenstadt so, dass ich mir vor dem Aufbrechen nochmal die Quadrate vor Augen führe, die bei Google mit hilfreichen Pfeilen versehen sind, welche die Fahrtrichtung anzeigen und mich wiederum an Vektorfelddiagramme aus der Mathe III Vorlesung erinnern. Wenn ich dann im «Vektorfeld» bin, kann ich die geplante Route oft nicht einhalten, gehe noch einkaufen oder komme auf andere Weise vom Weg ab, werde zur Seite gehupt und fahre fix wieder in die falsche Richtung in einer Einbahnstrasse, mich dabei von Polizisten anpöbeln lassend. Mannheim.

Nov 9, 2008

the happening world

«Der Himmel über dem Hafen hat die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet ist.»
Die Nacht ist mild, geruchslos. Der Himmel ein dunstiges Etwas, durch ihn wabert das Streulicht der Industrie und des Hafens wie Milchschaum und erhellt die Strassen wie eine alte, matte Leuchtstoffröhre. Die Kioske haben geschlossen, in einem Callshop im Jungbusch aber finde ich Zigaretten. Ich gehe ins Cafe Riz. Hier dauert das Pils noch, zwar nicht sieben Minuten, aber auch nicht weit davon entfernt. Ein älterer Türke bedient die Bar, er hat weisse Haare wie ein Chinese, poliert Gläser. Der Zapfhahn tropft. Die Musik rinnt an den holzgetäfelten Wänden herunter, Lounge-Jazz, flüssig wie kalte Luft. Der Tag geht vorüber, er geht langsam durch die Strassen der Quadrate, H6, G5, F4, die Baustelle. Vorbei am Rathaus, E5. Ich gehe in die entgegengesetzte Richtung, ins Dunkle. Frage mich, wann ich sie wiedersehe werde.

Nov 8, 2008

Beileidsbekundungen

Das Unbehagen der kafkaesken Zukunftsvorstellung, in der die Maschinen den Menschen ihre Verhaltensweisen vorgeben, ist längst zu einem omnipräsenten Realtraum geworden. «Ich kann die Karten nicht stornieren», meinte die Frau an der Kasse, «das Geld fehlt mir dann im System.» Erklärend deutete sie mit der Hand auf die Broschüre des Filmfestivals, wo irgendwo im Kleingedruckten vermutlich «Umtausch ausgeschlossen» oder so etwas stand. Die Tickets, sie befanden sich in einer Innentasche meiner Jacke, die ich nur vorhin, beim hastigen Einpacken, entdeckt hatte. Jetzt, hier, an der Kasse, blieb die Innentasche meinen suchenden Händen verborgen. Also zahlten wir ein zweites Mal.
Der Film allein, er war die zehn Euro wert. «Ulzhan» vom deutschen Regisseur Volker Schlöndorff.

Nov 7, 2008

Wir nannten es Arbeit VIII

Kontext:
Auf der Fahrt durchs Werksgelände, wenn ich an der GuD I-Anlage vorbeifahre, wo auf der der Strasse zugewandten Seite hinter Gittern die grossen ABB-Transformatoren vor sich hinbrummen, deren Sound mich an die ersten Bassakkorde aus «Thriller» erinnert.

Ein rostiges Dach, das einen zusammengeschusterten Eindruck macht. Ein Kamin, der von einem Stahlgerüst umgeben ist. Ein Gebäude, dessen Ausmasse etwas Bulliges an sich haben, Kantiges, Unwirkliches. Erinnerungen an Tschernobyl, den Reaktor. Ludwigshafen erscheint plötzlich als Prypiat, als Arbeiterstadt neben dem Unglücksort, das Unwesen des Fabrikgebäudes als der Sarkophag von Tschernobyl. Wie lange, bis sich die Katastrophe hierher verschiebt? William Gibson beschrieb einen Charakter in einem seiner Bücher als «das Produkt der Schuttwelle, die den Kern des radioaktiven alten Bonn umschliesst», und Bonn ist keine zwei Autostunden entfernt.

Meine Kette klackert zu sehr, sie sitzt etwas lose, vielleicht ein Glied zuviel drin. Ich werde das Rad am Montag zu der Werkstatt nahe Tor 11 bringen müssen. Keine fünf Minuten, nachdem ich das gedacht habe, sind meine Finger, meine Feinmechanik, mit «Sprühöl 88» vollgesaut, dem hochwertigen Feinmechaniköl mit Additiven für bessere Hochdruckbelastung, Korrosionsschutz und Alterungsbeständigkeit für zuverlässige Schmierung der Feinmechanik, das ich noch am Tag zuvor appliziert habe. Ein Glück, so ging die Arbeit viel leichter.

Nov 5, 2008

Wir nannten es Arbeit VII

Kontext:
Neulich las ich in der Mannheimer Zeitung:
«Es gibt die unterschiedlichsten Prominenten. Die einen werden ständig fotografiert und nehmen es lässig hin. Andere wollen das gar nicht. Und wieder andere werden nicht fotografiert, wollen aber unbedingt und drängen sich in die erste Reihe. Das ist bei Städten nicht viel anders. Mannheim ist dabei, natürlich, ganz souverän. Immer wieder wird die Stadt fotografiert, wie berichtet jetzt sogar vom kalifornischen Internetimperium Google. Mannheim lässt es über sich ergehen, lächelt freundlich - sagen wir: wie Brad Pitt.»
Das ist typisch Baden-Württemberg. So ein Hinterwäldler-Bundesland ist natürlich immer mit dabei, total souverän. Wäre der Landeshaushalt nicht so berauschend und wären die Weine nicht so köstlich, wir würden meinen: Die haben sie nicht alle. Von Baden-Württemberg habe ich die günstigste Ecke getroffen, nämlich diejenige, die am weitesten vom Schwabenland weg ist, mithin die nord-westlichste, fast bei Frankfurt. Hier geht der lallende, bodenständige Redestil des Südens langsam über in den Sing-Sang der Pfälzer, dabei eine leicht gekantete Tonation annehmend. Und dennoch: Mannheim mit Brad Pitt zu vergleichen; dieses Land ist eine Klasse für sich. Kein Wunder! Landschaften wie im Prospekt, Rebberge, fast die gesamte Autoindustrie der Republik, ausserdem ein paar bestechende Universitäten von Exzellenz-Rang, Karlsruhe, Freiburg, Göttingen... es gibt einige Dinge, auf die gediegene Baden-Württemberger mit ihrem fleischigen, teigigen Zeigefinger deuten werden. Untereinander sind sie sich, das kennt man aus der Schweiz, überhaupt nicht einig; denn so geht die Glosse weiter:
«Schließlich wären wir bei der dritten Gruppe - es handelt sich um Heidelberg. Diese Stadt wird wahrlich täglich von tausenden japanischen Digitalkameras abgelichtet. Doch die Jungs von Google interessiert das irgendwie nicht.»
Heidelberg, pfui Teufel! Versnobbte Akademiker, Tagträumer, Studenten! Mannheims Uni ist bekannt für die betriebswirtschaftlichen Fächer, VWL, Geopolitik... Fächer, in denen die Studenten rumlaufen wie Vertreter.
Wie schön ist es bei dem ganzen Getue, einfach über den Rhein zu fahren und sich ausserhalb des hysterischen Wettstreits zu wissen. Die Pfälzer halten viel von ihrem Land, verschütten aber nicht gleich ihren Kaffee, wenn Google es nicht ablichtet.
Heidelberg im Frühsommer - tatsächlich abgelichtet mit einem japanischen Modell.

Nov 4, 2008

Fast Frankfurt V

Reiseaufzeichnungen, Woche 3
Die Reisegruppe stellt sich heraus als NGO auf Betriebsausflug. «Politikfabrik» aus Berlin erkundet mit Sponsorenverträgen in der Tasche und unter der Schirmherrschaft des Auswärtigen Amts das Land, das mit einem Fuss schon auf dem Weg zur EU und NATO ist. Weiter allerdings nicht, denn noch immer beherrscht russlandnahe Politik und Lobbytum die Ukraine, die früher die Kornkammer der Sowjetunion war. In der Staatsbahn gibt es nichts zu essen, ich habe auch nichts eingesteckt ausser einer Literflasche Mineralwasser. Die Mitglieder der Politikfabrik aber füttern mich mit Informationen und Essen. Das Dreierabteil des Nachtzug-Express teile ich mit Alexej, einem Ukrainer, der Nabokov liest und in Mecklemburg-Vorpommern eine Postdoc-Stelle innehat. Auch von ihm gibt’s Essen – seine Taschen sind gefüllt mit Köstlichkeiten, die ihm seine Frau zubereitet hat. So gerät die Fahrt anstatt zum Fastentrip zur Gourmet-Kutsche. Warschau passieren wir nachts, unser Abteil ist jetzt voll. Die Schaffner sind smarte, gutgekleidete Herren, auf ukrainisch «provodnik», denen Alexej sofort Schmuggel unterstellt. Über gebratenem, mariniertem Putenfleisch, gekochten, ungeschälten Kartoffeln, Paprika und Mohrrüben, Kuchen und Brot erklärt er mir die Jetztzeit des jungen Staates aus seiner Sicht, die ziemlich pessimistisch ist. Die Fenster-Landschaft des nächsten Tages ist nicht pessimistisch, sondern einfach neutral. Steppe, Wälder, vereinzelte Häuser und Siedlungen. Noch sind wir in Polen. Die Nacht ist angenehm in Zügen wie diesen; alten, breiten Metallmonstern mit irrsinnig hohen Einstiegen. Es sind einfache Pritschen, auf die allerdings gut gepolsterte Matrazen ausgerollt werden, es gibt eine Wolldecke, Kissen und weisse Bezüge. In der Erwartung von Buchläden mit einer englischen Abteilung beschränkt sich mein Lesestoff auf einige Zeitungen und den «lonely planet». Der geringe Umfang dieses Reiseführers spricht Bände über den Tourismus in der Ukraine. Der Reiseführer listet all die wenigen Dinge auf, die es zu besichtigen gibt, räumt aber im selben Atemzug ein, dass es beinahe unmöglich ist, es auch wirklich zu tun. So etwa das Museum, das in einem ehemaligen Kontinentalraketensilo der Sowjetunion eingerichtet wurde: «It’s a fascinating museum, but there are no english guides and getting here is a considerable hassle unless you’re driving from Kyiv to Odessa.» Fahren steht hier für Autofahren, was für ungeübte Lenker ein Abenteuer für sich ist.

Nov 1, 2008

Nachspiel: 9. Juni 2008

«An den Zapfhähnen der Bars wird aus dem grossen, quantenmechanischem Traum wieder ein binärer, bestehend aus den bits "kleines Bier" und "grosses Bier". Hier ist alles, was nicht mit der Abfertigung von Kunden, der Gästesituation insgesamt, dem Wetter, dem Fussballspiel oder persönlichen Dingen zu tun hat, irrelevant. Die meiste Zeit verbringt der Barkeeper darüber nachgrübelnd, warum wann wieviel Gäste kommen, beziehungsweise warum nicht. Noch ist die Meisterschaft in diesem Land weder mit vielen Toren für die eigene Mannschaft gesegnet gewesen, noch mit gutem Wetter, es kommen also nur wenig Leute. Die Übertragung und die Euphorie finden rein auf elektronischem Weg statt und nicht zwischen den Menschen.»
-fdm

Wir nannten es Arbeit VI

Im Labor übe ich mit den Laboranten gerade die richtige Bedienung des
Telefons, eine Technik, die ich noch von meiner Zeit im Hyatt
beherrsche: «Syntheselabor L4-04, hier ist so-und-soundso, mit wem
spreche ich?». Die Hochstapler kontern natürlich sofort mit
«Laborstand Dr. Gralla, Abteilung Schwierige Synthesen, was kann ich
für Sie tun?»
Es braucht viel Überzeugungsarbeit, mit Pfälzern in einem Raum zu
sein.

Oct 28, 2008

Wir nannten es Arbeit V

Ein hingeklatschtes «BEH», vokalisiertes «OA», dann, singhaft leicht erhoben, das scharfe «ÄSS», und schliesslich das «ÄFF», das wie ein feuchter Händedruck daherkommt. Voilà, das ist die rheinland-pfälzische Interpretation unseres Firmennamens, der ja eigentlich rechts-rheinischen Ursprungs ist («Badische Anilin- und Sodafabrik»), aber kurz nach der Gründung 1865 nach Ludwigshafen in die damals bayrische Rheinpfalz gewechselt ist, wo es vom König erstmal Subventionen gab. Die Pfälzer («Pälzer» im O-ton) dominieren auf Laborebene, um sie und ihren Dialekt kommt man nicht umhin. Sie wohnen zwischen Rebbergen an der Weinstrasse, in Frankenthal, Landau oder Speyer und reisen so von weit her an, weil sie sehr heimatverbunden sind. Die Pfälzer sind freundliche und offene Menschen, nicht so brav wie die vielen Gutmenschen aus Baden-Württemberg. Und zumindest einige Kollegen aus der Gruppe haben es faustdick hinter den Ohren. Die Gruppe: Das ist Gruppenleiter Ebel, ein gesetzter, älterer Mann mit Schnurrbart und ruhigem, wenn auch pfälzischem Auftreten. Er hat das Amt seit 20 Jahren inne. Ihm unterstellt sind die Laborleiter, jüngere Exemplare, die sich erstmal die Sporen verdienen müssen. Mein Chef zum Beispiel kommt gerade von einem Postdoc-Aufenthalt in San Diego beim Halbgott der Organischen Chemie höchstpersönlich: Professor KC Nicolaou. In seinem Team geht es eher ruhiger zu und her, im Labor aber bin ich ohnehin mit Laboranten von anderen Teams zusammen, und bei uns steppt der Bär. Wie ich von anderen Praktikanten erfahren habe, bin ich in eines der lebendigsten und nettesten Laborteams geraten, mir wird immer geholfen und wir haben viel Spass. Zwar hat nicht jeder seinen eigenen Computer-Arbeitsplatz, aber eine Kollegin ist nur jede zweite Woche da, also komme ich immer irgendwo unter. Auch habe ich genügend «bench»-Freiheit, einen riesigen Abzug und genügend Material und Laborutensilien. Schon nach zwei Wochen herrscht bei mir eine gesunde Ordnung, die sich mit dem umliegenden Chaos paart. Ich bin schon wieder verliebt in das Geäst der Wasserschläuche und Glasapparaturen, in die Reaktionsbeschreibungen und Analysenaufträge, in die bunte Pampe und die Ölheizbäder. In der BASF wird weniger akademisch gearbeitet, wir werden anders eingekleidet. Weisse Labormäntel sind passé, möglicherweise will man den Laboranten einen so kompetenten Eindruck nicht gönnen, wie ihn der Kittel erzeugt. Die zur Verfügung stehenden Kittel sind grau, deswegen trägt sie fast niemand. Die meisten arbeiten in Blaumann und weissen Antistatik-Schuhen, die sehr bequem sind. Für obenrum gibt es als Alternative (anstelle der schnöden blauen Jacke) ein schlichtes blau-graues Baumwollhemd, das gerade mit hochgekrempelten Ärmeln eher an Atelierkleidung erinnert als an Handwerker im Labor. Mein Lieblingsstück, natürlich.

Ein Bild der Forschung aus Universitäts-Zeiten. In der BASF sind Fotoapparate natürlich streng verboten.

Oct 25, 2008

Fast Frankfurt IV

Reiseaufzeichnungen, Woche 2
Ankommen. Abfahren. Nie ankommen, nie abfahren. Immer mit der Reisetasche in der Hand, ein wechselndes Sortiment von wichtigsten Habseligkeiten auf sich führend, in einer neuen Stadt, mit anderen Strassen, Namen, Geschäften. WG-Besichtigungen, Pläne für die Zukunft, sich schon wieder mit dem Wohnen beschäftigen, obwohl doch gerade erst der Überwurf der sicheren Wohnung abgestreift wurde. Küche, Bad, Balkon. Fenster zum Innenhof, oder zur Strasse, oder aufs Nebenhaus, oder Blick auf die Schienen. Kirche in der Nähe, nerviges Getöne am Sonntagmorgen? Wie weit zur Brücke, zur BASF? Waschmaschine, Wandschränke, Stuck? Die Koordinatensysteme des Lebens werden wieder neu ausgerollt. Die Beschreibung der Örtlichkeiten, mit Einkaufsmöglichkeiten, Friseur usw. erinnert mich an Thailand, wo in jedem grösseren Stranddorf die Seven-Eleven Supermärkte als Orientierungshilfen dienten, da es sowas wie Adressen in unser damaligen Welt nicht gab. Grundlage jeglichen Prekariats sind in Mannheim: Lidl, Aldi, oder eben Plus oder Norma, wenns nicht anders geht. Tengelmann, von vielen liebevoll «begehbarer Kühlschrank» genannt, unverzichtbar für Alkoholika. Metzgereien, Bäckereien, Büchereien...mit jeder Erwähnung zieht ein neues Leben vor meinen Augen vorbei, ein gutbürgerliches, mit Bäckereibesuchen, Stofftüten, Fahrradkorb. Ich beantworte Fragen, ziehe Wohnungstüren hinter mir zu, dritter Stock, vierter Stock, Erdgeschoss. Alles nur Maskerade! Die Gutbürgerlichkeit fällt von mir ab, ich bin doch nur Tourist. Ich gehe zurück in die J6, packe den Rucksack, ein letztes Sandwich am Bahnhof, dann der ICE nach Berlin, wo ich abgeholt werde und wo uns die vertraute S-Bahn durch die Nacht nach Lichtenberg fährt, wo der D345 wartet, Destination Kiev Pass. Vor mir eine lärmende Reisegruppe. Wir trennen uns. Einsteigen, hinsetzen, und plötzliche Ruhe, gepaart mit freudiger Erwartung. Der Zug ruckt an, die Reisenden in den anderen Abteilen, die noch stehen, rufen erstaunt aus. Wir lassen die Lichter hinter uns und fahren in die Dunkelheit, dorthin, wo die polnische Grenze steht.

Oct 23, 2008

Wir nannten es Arbeit IV

Oder: Hin und wieder zurück.
Tiefer Schlaf, von wirren Träumen durchzogen, ereilt mich hier, nach rund einem Monat Mannheim, jede Nacht. Der Wecker kommt zu früh, aber gerade rechtzeitig, um grössere Abstrusitäten zu verhindern. Mit einem Satz bin ich im Bad, prüfe den Sitz der Schlaf-Falten, esse etwas. Bei der ersten Zigarette blicke ich, auf der Dachterrasse unter dem tiefschwarzen Himmel stehend, in Richtung Pfalz, wo Scheinwerfer die am Fluss stehenden Verladestationen als Silhouetten abbilden. Im schwarzen Jogginganzug, die IKEA-Handtasche umgehängt, eile ich die Treppen herunter in den Innenhof, wo das Rad steht. Die Quadrate beginnen, sich mit Leben zu füllen. Ich kreuze den Luisenring, bin schon am Verbindungskanal, fahre gleich die Rampe der Kurt-Schumacher-Brücke hoch, überhole andere «Aniliner», die man leicht an den BASF-Jacken und –Helmen erkennt. Auch ich trage Helm, auf dem Werksgelände ist das Vorschrift, und ihn erst am Tor anzuziehen umständlich. Über dem Rhein lichtet sich langsam die Dunkelheit, das grelle Scheinwerferlicht der Hafenanlagen liegt jetzt scharf links, jeden Morgen ist die Dämmerung etwas weniger hell, es ist viertel nach Sieben. Weisse Möwen fliegen in Gruppen knapp über die schwarzen Wasser des Rheins, der tief unter mir dahinfliesst. Die Brücke dauert ewig, der Berufsverkehr auf der anderen Seite zieht vorbei. Am Ende der Brücke rolle ich die Rampe herunter, halte kurz vor Tor 7. Mein Ausweis öffnet die Schranke, ich schiebe das Rad durch, steige wieder auf.
-
Auf der Rückfahrt ist es mild, nicht selten scheint hier die Sonne am Nachmittag, auch wenn der Morgen neblig und wenig vielversprechend aussieht. Der Berufsverkehr geht jetzt in die andere Richtung, wieder mir entgegen, viele Laster sind darunter. Im Jungbusch, dem «Szeneviertel», schlängele ich mich durch die mir entgegenkommenden Autos in Einbahnstrassen, komme an Spielplätzen vorbei, die komplett türkisch besetzt sind, und wo man bei den am Rande sitzenden Figuren nie weiss, ob es Eminem-Gangster sind oder junge, bildhübsche Türkinnen mit Kopftuch. Die letzte Zigarette wieder auf dem Dach, in der Sonne. Bald ist Zeitverschiebung.

Oct 21, 2008

Wir nannten es Arbeit III

Gestern bei einem Kontaktforum gewesen, zu dem ich letzte Woche von HR eingeladen wurde. Da das Treffen ausschliesslich für Naturwissenschaftler war, traf ich dort auch zum ersten Mal alle Praktikanten meines Faches. Einige von ihnen machen das Praktikum, um die Zeit bis zum Beginn der Promotion zu überbrücken und wurden von ihrem Professor eingeschleust – dementsprechend sind sie eher zurückhaltend und können sich nicht so ganz auf die industrielle Arbeitsweise einstellen. Wir haben uns verabredet, mal Mittagessen zu gehen. Da wir alle so verstreut über das Werksgelände verteilt sind, erfordert das sorgfältige Planung. Beim Kontaktforum haben wir Wissenschaftler kennengelernt, die schon länger in der BASF tätig sind. Der Einstieg ist immer gleich: Man hat einen PhD in Biologie, Physik oder Chemie und leitet als erstes ein Labor oder einen Zusammenschluss von Labors, so wie es mein Chef auch gerade tut. Zwei bis drei Laboranten (und, wenns hochkommt, ein fleissiger Praktikant, so wie ich) arbeiten an den Projekten, die man ausarbeitet. Den Kontakt zur «echten» Chemie oder Biologie, zum Handwerk, hat man zu diesem Zeitpunkt bereits verloren. Man sitzt im Büro und steht nicht mehr im Labor. Nach drei bis vier Jahren bietet sich die Möglichkeit, die Abteilung zu wechseln, unter Umständen auch das Arbeitsfeld. So kann man im technischen Marketing landen, bei der Produktion, und so weiter. Auf diese Weise lernt man viele Bereiche des Konzerns kennen, unter Umständen auf anderen Kontinenten, und kann so die goldene Mitte ausloten, wo man sich am wohlsten fühlt. Für Dr. Simon Champ, der mir beim Mittagessen gegenüber sass, bedeutet das Marketing im Kosmetik-Bereich. Er klärte mich über die Trends der nächsten zehn Jahre auf, und verlor auch einige Worte über Anti-Aging, got2b Haargels und UV-A-Strahlung. Noch ein Wort zum Mittagessen: Das fand im BASF Casino statt, dem besten Lokal des Betriebs, wo nur auf Einladung gespiesen wird. Für einmal durften wir uns fühlen wie auf der Vorstandsetage und bekamen vier köstliche Gänge serviert. Als wir fertig waren, so gegen zwei, halb drei, beschlossen wir, dass wir für heute genug gearbeitet hätten und machten uns auf den Weg nach Hause.

Oct 20, 2008

Es gibt nichts Gutes

ausser man tut es. Gerade Zusage für Zimmer in Traum-WG bekommen, gross wie eine Kirche. Ein kilometerlanger Flur, sechs Mitbewohner, Altbau, liegt auf dem Arbeitsweg. Morgens fünf Minuten länger schlafen, oder abends fünf Minuten länger bloggen. Gute Hausnummer, fast direkt am Verbindungskanal, mitten im Szeneviertel, und eine Miete knapp unter einer Fantastilliarde.

yellow pages Deutschland


Stertzik/Mrusek

Oct 19, 2008

Fast Frankfurt III

Reiseaufzeichnungen, Woche 2
Ich kam an einem Samstagabend an, es war warm und die Leute auf den Strassen hilfsbereit bei der Wegbeschreibung. Das Navi des Wagens kannte die halbe Welt, aber nicht die Quadratstadt Mannheims, in der es schwierig ist zu navigieren, alles schmale Einbahnstrassen. Wir luden die Bücherkisten in den Keller und hievten den Rest die vier Stockwerke des Altbaus hoch. Endlich war ich da. Zürich, die Toskana, das Studium und die Freunde liegen plötzlich in weiter Ferne, jenseits der Grenze. Auf der Fahrt habe ich eine CD von Plastikman gehört, die ungekannte Töne durch die Lautsprecher des Autos in den Innenraum geschickt hatte und mich so, eingelullt, den Umzug vergessen liess. Kurz vor der Ausfahrt waren die riesigen Produktionsbauten des BASF Industriegeländes am Rand der Autobahn vorübergezogen. An den Enden der Schlote hingen wie müde Geisterfahnen die Rauchsäulen des Betriebs. Jetzt bin ich da, in diesem Augenblick, in den Quadraten, Mannheim, würziger Geruch in der Luft von der nahen Schokoladenfabrik, deren Schornsteine ebenfalls nachts qualmen. Ich denke nicht an die Arbeit, noch nicht. Zuviel liegt noch dazwischen. In der Küche sitzen sie alle, die drei Mitbewohnerinnen meiner Bekannten. Es ist dunkel in der Wohnung, und Kerzen scheinen. Wir trinken Wein. Ich komme langsam an. Dann gehen wir zu dritt in die «Alte Feuerwache» auf der gegenüberliegenden Seite des Neckars, wo ich die ersten Stunden der frischen Nacht, des frischen Lebens tanzend verbringe.

Oct 12, 2008

Fast Frankfurt II

Reiseaufzeichnungen, Woche 2
Die völlig zeitlose und gedächtnislose Landschaft der Toskana trug dazu bei, dass ich mich schon nach einem Tag nicht mehr an mein ursprüngliches Vorhaben erinnern konnte. Mein Vorhaben war das Vergessen gewesen. Vielleicht aber hatte ich bereits vergessen, und ohne Mobiltelefon und Email fehlte mir schlichtweg jede Möglichkeit, mich zu erinnern. Nach den sieben Tagen der Seminarwoche waren wir komplett satuiert, sowohl was den Körper anging, den wir schon vom zweiten Tag an, vom reichhaltigen Essen gefüllt, durch die Gänge und über Treppenläufe schleppen mussten, als auch, was den Geist anging. Wir hatten gefunden, wonach wir nicht gesucht hatten, die Augen blickten begeistert auf alles, was da kommen möge und die Ohren summten vor mattem Glück. Und als der Wüstenwind der Sahara nach Kontinentaleuropa heraufblies und die Luft stickig wurde und undurchdringbar, machten wir uns auf den Weg zurück nach Zürich, wo ich mich von der ersten Minute an nunmehr als Tourist fühlte, als jemand, der kurz etwas erledigen muss und dann geht. Ich hatte gleich mehrere Sachen zu erledigen, einige bürdete ich einem Freund auf, der für unsere Wohnung die Schlüsselübergabe regelte, wir betranken uns das letzte Mal an einem Freitag, ich holte das Bier wie üblich in der Brauerei nebenan. Der Besitzer des Brauhauses wünschte mir eine gute Reise und lud mich ein, wenn ich mal wieder in Zürich wäre, auf ein Glas vorbeizukommen. Er wusste nicht, dass ich gerade in diesem Moment «mal wieder» in Zürich war. Der zweite Mietwagen in dieser Woche war ein komfortabler Vectra, der am Tag darauf meine restlichen Habseligkeiten in seinen grossen Kofferraum aufnahm. Die Wegfahrt erzeugte ein tolles Gefühl, das nur dadurch gedämpft wurde, dass ich mich erst an das moderne Auto gewöhnen musste. Bis Freiburg regnete es, erst dann gab ich Gas und jagte mit mehr als 200 Stundenkilometern Richtung Norden, Richtung Frankfurt.

Wir nannten es Arbeit II

Als ich gestern nach dem Mittagessen in die Garderobenräume im Keller gegangen bin, um meine Zeitung zu holen, lag dort auf einer der Sitzbänke der Laborant von nebenan, bei seinem Kopf tickte ein Wecker. Es war ein bisschen gruselig, ihn dort so zu sehen, er ist auch etwas gruselig wenn er nicht schläft, aber in diesen gedrungenen Garderobenräumen, wo zwischen den Spinden nicht viel Platz ist, war es speziell gespenstisch ihn dort so liegen zu sehen, ein wenig wie bei Dracula, nur ohne Sarg. Meine Arbeitskollegen im Labor in der Abteilung für marktnahe Produktentwicklung sind die Zahnräder, durch die sich die BASF überhaupt erst bewegen kann. Die meisten von ihnen arbeiten hier schon seit mehr als zehn Jahren. Nach der dreijährigen Ausbildung zum Laborant im Betrieb werden sie oft direkt von der BASF übernommen. Ihre Arbeit umfasst die mehrstufige Synthese von Chemikalien und, wenn ihr Projekt erfolgversprechend ist, auch das Scaling-Up, das im abteilungseigenen «Technikum» durchgeführt wird, einer Pilotanlage, in der die Reaktionen auf grösserem Massstab getestet werden. So optimiert die BASF einerseits bereits bestehende Prozesse in ökonomischer und ökologischer Hinsicht und erweitert andererseits ihr Chemikalien-Portfolio. Das Chemikalien-Portfolio – jeden Nachmittag auf der Rückfahrt durch das Werksgelände schnüffele ich mich durch die halbe Produkt- und Zwischenprodukt-Palette der «Chemical Company». Seit der zweiten Praktikumswoche nenne ich eines der begehrten BASF-Werksräder mein Eigen, das ich direkt vom Chef bekommen habe. Auf dem Weg vom Laborgebäude zum Werkstor in Ludwigshafen fahre ich auf der Anilinfabrikstrasse, wo lange Kolonnen von Tankwaggons über das Schienennetz zu den Abfüllstationen der Produktionsbetriebe und wieder zurück zum Landeshafen geschoben werden. Die BASF ist ein Organismus – Nahrung kommt in Form von Rohöl mehrmals täglich per Frachter an den Pipelines des Landeshafens an, von wo es zu den Steamcrackern geleitet wird. Dort werden die Kohlenwasserstoffe in handliche, kleinere Monomere zerlegt, aus denen Plastik gemacht wird, Farben, Lacke, Pharmavorprodukte und anderes. Energie kommt von den werkseigenen kombinierten Energie- und Dampfanlagen, die Strom und Wasserdampf erzeugen. Organismus heisst bei der BASF «Verbund», die BASF unterhält sechs Verbund-Standorte weltweit, Ludwigshafen ist davon der grösste.

Oct 8, 2008

Fast Frankfurt I

Reiseaufzeichnungen, Woche 1
Geistesbewegung hin oder her, auf Dauer wird der Körper müde, wenn er am selben Ort bleibt. Und so endete das Kapitel Zürich gegen 4 Uhr an einem Freitag unter sonnig-dunstigem Himmel. Die Benommenheit, die sich mit dem Wetter einstellte, passte gut zur Unwirklichkeit des Abschieds; gerade noch Professorenhände geschüttelt und Prüfungsfragen beantwortet, schon das letzte Mal aus dem Chemiegebäude gelaufen, schon wie bewusst die letzten Blicke auf das Landschaftspanorama und die vom Flughafen startenden Spätnachmittagmaschinen geworfen, schon das letzte Mal joggen gegangen durch den nahen Wald. Die Bewegung des Wegfahrens, des Loslassens, hält länger an, gleich wird die Reisetasche gepackt, gleich wird sich eingestellt auf eine interdisziplinäre Seminarwoche in der Toskana mit viel Esoterik und gutem Essen und gutem Wein. Eine Zeit, in der ich, ganz kurz nur, Abstand nehmen kann vom ständigen Verschwinden. Hier, in der Toskana, unter dem schweren Himmel des Herbstes, unter den Ästen der Kiefern, den Sternen, im Garten neben dem Eingang zur Capella, neben dem Gehege der Landschildkröten, hier tauchen Freude und Gelassenheit wie Geister hinter den sterbenden Überresten des Studiums auf, und ausserdem die interessantesten Leute der Hochschule in Zürich. Was sich auch einstellt, ist eine Ruhe nach dem Studium. Der mit Reisen vollgestopfte September drohte, besorgniserregend zu sein, bevor er überhaupt begonnen hatte.

Oct 3, 2008

Wir nannten es Arbeit I

Der Arbeitsvertrag über sechs Monate war im ersten und einzigen Antwortbrief gekommen, den ich von der BASF erhielt. Es gab kein Interview, auch nicht per Telefon, wie es mir Schering in Berlin angeboten hatte. Ich glitt also völlig widerstandslos vom Studium in die Praktikumszeit bei der grössten chemischen Firma der Welt, die zugleich eine der bestgeführten von ganz Deutschland ist und in der Landschaft der Landesökonomie so etwas wie einen Konjunkturindikator darstellt. Mit mir fingen 30 weitere Praktikanten an, die wie ich in ihren Zwanzigern steckten und von denen die meisten aus der Umgebung kamen, einige schrieben ihre Diplomarbeit und waren nur wenige Tage pro Woche tatsächlich in Ludwigshafen. BASF und Chemie, Ludwigshafen und Mannheim, es gibt in der Rhein-Neckar-Metropolregion wenig, das gegensätzlicher wäre. Von den 30 Praktikanten haben bloss drei tatsächlich etwas mit Chemie zu tun, ich bin einer davon. Der Rest beschäftigt sich mit den Dingen, die eben so anfallen in einem Unternehmen mit fast 100.000 Mitarbeitern auf fünf Kontinenten und einem jährlichen Umsatz von 58 Milliarden Euro. Da wäre die Marketingabteilung, Public Relations, Finanzen und Rechnungswesen, Controlling, ausserdem werden Praktikanten in Tochterunternehmen in der Region eingesetzt. Ludwigshafen, im Bundesland Rheinland-Pfalz links des Rheins gelegen, ist eine Stadt, die im Grunde nur für die BASF existiert, deren Firmensitz dort ist. Jeder, der mit BASF zu tun hat oder in der Metropolregion wohnt, hat mir abgeraten, dort hinzuziehen, viele sind nicht einmal in der Stadt gewesen. Ludwigshafen ist also so etwas wie das spukhafte, angeblich nicht-existente Bielefeld, über die Rheinbrücken zwar schnell erreichbar, aber psychologisch weit entfernt. Im Gegensatz zu Bielefeld, dessen Vorhandensein ich bezeugen kann, ist es auch schwer, sich hinter den Hafenanlagen und Industriegebieten eine echte Stadt vorzustellen. Es ist einfacher, die Produktions- und Handelsbetriebe endlos in die Ferne weiter zu projizieren. Mannheim wiederum, rechts des Rheins gelegen, ist eine handfeste, putzige Stadt mit einem kreisrunden, gitterförmig gearteten Zentrum, der «Quadratstadt». Um das Schloss herum angelegt, in dem heute die Universität residiert, wollte der damalige Kurfürst der Pfalz um 1600 damit sein absolutistisches Weltbild verdeutlichen. Strassennamen gibt es keine, stattdessen hat jeder Häuserblock eine Buchstaben-Zahlen-Kombination; ich wohne gerade in der J6, die Stammkneipe ist in der S1.

Jul 20, 2008

Verspätungsbekundungen

Es ist wie in einem weit entfernten, komisch anmutendem Traum der Zukunft, in dem die Maschinen den Menschen ihre Verhaltensweisen vorgeben. Ist man heutzutage handylos, so ist das erst der Anfang der sozialen Isolation. Krassere Abgeschnittenheit erlebt, wer ein Handy besitzt, es aber vergisst mitzunehmen. Findet sich derjenige pünktlich zu einem Treffen ein (eine Eigenart, die in der Ära vor Mobiltelefonen eigentlich normal war, aber mittlerweile so angestaubt wirkt wie ein Gameboy), ist aber eben nicht erreichbar, so kann es vorkommen, dass er später von seinen Treffpartnern gerügt wird, weil er deren Verspätungsbekundungen nicht „rechtzeitig“ empfangen konnte. Entschuldigung?

Jun 14, 2008

gold-blau

Wir waren es satt, ständig mit der blauen IKEA-Handtasche herumlaufen zu müssen, und so gingen wir los um uns ein anständiges Modell zu besorgen. Der neueste Schrei auf dem Samstagmorgen-Flohmarkt waren gerade Fahrräder, die komplett gold lackiert waren - sogar die Speichen, die Pneus und der Sattel waren ganz in gold. Wir sahen sie schon vor dem Flohmarkt in Seitenstrassen vor Hauseingängen herumstehen, jemand hatte ein gutes Gespür für Guerillamarketing gehabt und die Verkaufsobjekte gleich selber als Werbung benutzt. So musste es den Anschein haben, als ob das halbe Szeneviertel so ein Rad bereits sein Eigen nennt. In Sachen Handtasche wurden wir alledings nicht fündig.

Jun 12, 2008

unbekannte Spezies

Als Studenten waren wir so mittellos, dass wir nicht einmal eine Küchenwaage hatten. Unsere gekochten Gerichte gerieten durch die Unmessbarkeit der Zutaten immer sehr reich an einer Komponente, während die anderen Gemüsesorten oder Saucenbestandteile sich kaum durch den alles beherrschenden Geschmack dieser einen Megakomponente durchsetzen konnten und so jedes gekochte Gericht nach einer bestimmten, stets anderen Sache schmeckte. An Abwechslung mangelte es also nicht. Weil wir kein Auto hatten, mussten wir stattdessen Fahrrad fahren. Durch einen glücklichen Zufall gab es vor unserem Block sogar einen Fahrradständer. Die dort abgestellten Fahrräder aber fand man nie am selben Ort wieder, wir vermuteten, dass der schmierige Frisörladen im Erdgeschoss den Ständer als sein Eigentum ansah und für Kunden reservieren wollte. Jedes Mal stellte also die Besitzerin unsere Fahrräder in den schmalen Durchgang zum Hinterhof, und wir mussten jedesmal unsere Fahrräder aus dem Gewirr der anderen dort befreien und kamen zu spät zu allen wichtigen Terminen. Irgendwann bekamen wir Post von der Verwaltung. Sie forderten, dass wir unsere Fahrräder bitte nicht in dem schmalen Durchgang abstellen sollten, da sonst die Feuerpolizei nicht durchkäme. Feuerpolizei? Während der gesamten Dauer, die wir dort wohnten, haben wir diese Spezies nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, weder die Kunden des Frisörgeschäftes, noch die Feuerpolizei.

Jun 7, 2008

News von Gott

Gestern war die Generalprobe für den Auftritt der Freude. Das Wetter hatte sich extra ein wenig zurückgehalten, die Wolken blieben aber da, sie wollten die Show nicht verpassen. Irgendwann hiess es, alle aussteigen, die die normale Route fahren wollen, wir drehen hier ab, Innenstadt gesperrt. Die Strassen waren noch etwas leer, die Stände zahlreich, ein Riesenrad drehte sich hell erleuchtet, aber unbesetzt. Alle waren ein bisschen unsicher, oder schien es nur so? Woher kamen überhaupt all die Leute? Woher wussten sie davon. Als Verschmäher der Lokalpresse hatte ich von der Generalprobe natürlich nichts mitgekriegt. Ich nahm trotzdem teil. Im placebo-Stadion, in dem die Spiele auf Leinwand verfolgt werden können, lief irgendeine Show, auf einem Podest im Fluss wurde gesungen, Feuerakrobatik, laute Musik, Feuerwerk. Der Fluss und die Uferzone des Sees waren artig mit Bojen abgesperrt und Polizeiboote patrouillierten. An der Kirche, die erst in einem wunderbaren blau-weissen-Streifenmuster angestrahlt wurde, dann mit dem üblichen Schweizerkreuz, hingen elektrische Laufbänder wie Newsanzeigen von Gott. Anscheinend konnte man dort seine Botschaft hinsenden wie bei MTV oder VIVA, es kamen Sprüche wie"Hopp Schwiiz" oder "Laura baby, your parents love you.", trotzdem fragte später jemand "HEY Guys! Where are the english fans??". Zwischen den Botschaften kam Religiöses. Wir taumelten durch die Bars und hatten und fest vorgenommen, fröhlich zu sein. Im Helmhaus waren Konzerte, es wurde voller. Später zur Free Warm-up Party im Rosalys, wo die Restaurantfläche eine Tanzfläche war.